Essen. Ein Jahr Corona-Krise: OB Thomas Kufen über Ängste im Amt, seine Abneigung gegen autoritäre Gesten und seine Bekanntschaft zum Virologen Streeck.

Thomas Kufen sieht man an, dass der letzte Friseurbesuch schon eine Weile her ist, und Urlaub gönnte sich der als reisefreudig bekannte Oberbürgermeister in den letzten zwölf Monaten genau einmal: im Sommer ein verlängertes Wochenende in Leipzig. Als am 1. März 2020, also vor fast genau einem Jahr, der erste Corona-Fall in Essen gemeldet wurde, begann für Kufen ein permanenter Ausnahmezustand, der bis heute anhält. Ein Gespräch.

Herr Kufen, können Sie sich noch an den Moment erinnern, als ihnen klar war: Jetzt wird es ernst?

Das war als der erste Infektionsfall in Essen bekannt wurde. Ich war in Berlin, hatte Termine und dann das Gefühl, du bist jetzt hier am falschen Ort. Ich bin dann außerplanmäßig zurück gekommen, um an der ersten Sitzung des Lagezentrums teilzunehmen.

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Wenn wir uns an die erste Pressekonferenz erinnern, da war viel Anspannung zu spüren.

Jeder von uns fragte sich, sind wir gut vorbereitet. Natürlich hatten wir Pandemie- und Krisenstabpläne in der Schublade. Aber dieses Virus war etwas vollkommen Unbekanntes. Von Anfang an war klar, es spielt sich sehr viel in den Köpfen ab: Angst, Unsicherheit, Unkenntnis dominierten. Das schlägt sich bis heute nieder in einer großen Zerrissenheit der Gesellschaft. Der Anteil derjenigen, denen es mit der Öffnung zu schnell geht, ist genauso groß, wie der der anderen, denen alles zu langsam geht.

Trotzdem müssen Entscheidungen getroffen werden.

...und zwar Entscheidungen über Leben und Tod. Diese Formulierung fand ich am Anfang pathetisch und übertrieben, aber es ist so.

„Angst ist immer der schlechteste Ratgeber, das kann ich mir nicht leisten“

Sind oder waren Sie persönlich auch ängstlich?

Angst ist immer der schlechteste Ratgeber, ich kann mir das in diesem Amt nicht leisten. Professionell und unaufgeregt zu handeln ist der Maßstab, den ich an mich selber stelle, aber auch an die Mitarbeiter des Krisenstabes. Ich denke, im Großen und Ganzen sind wir dem bislang gerecht geworden.

Es fiel auf, dass sie sich autoritäre Reden und Gesten gespart haben, und in Essen nie schärfere Maßnahmen erließen, als Ihnen vom Land NRW auferlegt wurde. Wieso haben Sie das anders gehandhabt als manche Amtskollegen?

Vielleicht ist es eine Typfrage. Außerdem habe ich in der Politik gelernt, vom Ende her zu denken, und es hat mich in den ersten Monaten sehr aufgebracht, wie unterschiedlich die Maßnahmen waren. Schule auf, Schule zu, Kita auf, Kita zu – was macht das eigentlich mit den Familien? Manchmal wusste keiner mehr, ist dieses oder jenes schon verboten oder noch erlaubt? Eine der Lehren, die wir aus der Corona-Pandemie ziehen müssen, ist die überragende Wichtigkeit präziser Kommunikation. Ich bin ein bisschen stolz, dass wir mitten in der Pandemie den Neustart unserer Internetseite essen.de hinbekommen haben. Wir als Stadt haben zuverlässige Information und Orientierung geboten, darauf bin ich stolz.

„Wenn bei Virologen-Aussagen Wert- und Moralvorstellungen ins Spiel kommen, ist mir das fremd“

Unter den Virologen, die faktisch politische Macht haben, stechen die Namen Christian Drosten und Hendrik Streeck hervor, die sich zu Antipoden entwickelten. Sie halten es eher mit Streeck. Warum?

Ich bin überhaupt kein Ideologe. Wenn bei bestimmten Virologen-Aussagen auch Wert- und Moralvorstellungen ins Spiel kommen, ist mir das vollkommen fremd. Hendrik Streeck kannte ich noch persönlich aus seiner Zeit am Essener Uniklinikum, wo er an HIV-Viren forschte. Aber ich „folge“ niemandem. Selbstverständlich nehme ich Beratung in Anspruch, aber ich war immer der Ansicht, dass Virologen nicht entscheiden dürfen, was politisch passiert. Entscheidungen treffen gewählte Repräsentanten wie Ministerpräsidenten die Kanzlerin oder eben der Oberbürgermeister.

Man kennt sich, man schätzt sich: Oberbürgermeister Thomas Kufen und der Virologe Hendrik Streeck.
Man kennt sich, man schätzt sich: Oberbürgermeister Thomas Kufen und der Virologe Hendrik Streeck. © privat

Und da stand Ihnen Streeck mit seinem Ansatz näher?

Manche Virologen raten zu einer sehr engen virologischen Sichtweise, andere sehen mehr das große Ganze. Das erscheint mir richtig, zum Amt des OB gehört es meiner Ansicht nach, auch in einer Pandemie einen 360-Grad-Blick zu haben. Ich muss schauen, dass der Laden hier beieinander bleibt. Die volkswirtschaftlichen Schäden sind immens, ich hoffe, sie können wieder behoben werden. Doch die Schäden, die wir sozial erleben mit Blick vor allem auch auf Kinder und Jugendliche sind wahrscheinlich schwerer zu reparieren. Wir müssen lernen, mit diesem Virus zu leben, das ist ein Langstreckenlauf. Hier bin ich mir nicht nur mit Streeck einig, sondern auch mit Prof. Ulf Dittmer, dem Chef-Viologen des Essener Uniklinikums, der vieles ähnlich sieht. Wir haben in Essen den großen Vorteil, dass wir viele Experten in der Stadt haben. Das hat uns von Anfang an enorm geholfen. Wir hatten und haben einen besseren Blick auf das Infektionsgeschehen.

„Von der starren Fokussierung auf die Inzidenzen sollten wir wegkommen“

Essen gehörte bei der Sieben-Tage-Inzidenz nie zu den dramatisch schlechten Städten, hat aber bis jetzt auch nicht sonderlich gute Werte bei den Neu-Infektionen. Damit kann man nicht zufrieden sein, oder?

Inzidenzen sind Rechenmodelle, ich finde gut, dass wir jetzt langsam davon wegkommen. Wir hatten anfangs gute Zahlen, dann waren wir auf einem hohen Plateau, jetzt gehen sie runter. Das Problem ist, wenn eine größere Einrichtung oder ein Unternehmen betroffen ist, dann gibt es wieder Ausschläge nach oben. Deshalb will ich weg von der starren Fokussierung auf diese Zahl. Wir kennen das Virus nun viel besser als vor einem Jahr. Wir wissen, wie man alte Menschen schützen kann, wie man Schwerstkranken helfen kann. Und die Impfung der über 80-Jährigen entfaltet nun langsam Wirkung. Wichtiger als Inzidenzen erscheint mir da die Frage, ob wir genug freie Krankenhausbetten haben und genug freie Intensivplätze. Das sind für mich die wichtigsten Zahlen.

Die Akzeptanz des zweiten Lockdowns nimmt rapide ab, wie Umfragen zeigen. Haben Sie diesen Eindruck auch in Essen?

Ja. Wir erleben eine generelle Pandemie-Müdigkeit, besonders stark bei den Menschen unter 30. Dort ist man auch fahrlässiger bei der eigenen Sicherheit und der Rücksichtnahme auf andere. Junge Leute sagen mir, mein soziales Leben liegt darnieder, und die geimpften Rentner fahren demnächst wieder nach Mallorca.

Was sagen Sie denen?

Dass wir da jetzt durch müssen, gemeinsam. Und dass es für Ältere nun mal schwerer ist, die Erkrankung zu überstehen. Dass es deshalb richtig ist, sie als erste zu impfen.

„Datenschutz-Diskussion wird kommen, das gehört zur Aufarbeitung dieser Pandemie“

Der Unmut speist sich auch aus einer Pandemie-Bekämpfung, die immer weniger als professionell empfunden wird, Stichwort Fax-Geräte und übertriebener Datenschutz bei der Kontaktverfolgung.

Die Datenschutz-Diskussion wird kommen, das gehört zur Aufarbeitung dieser Pandemie. Mir ist die Sicherheit der persönlichen Daten sehr wichtig, und auch im Kampf gegen ein Virus darf nicht jedes Mittel recht sein. Aber alle Mittel müssen überprüft werden. Beim Datenschutz hat man sehr schnell gesagt, da lässt sich nichts ändern. Das kann nicht das letzte Wort sein. Und natürlich brauchen wir ein einheitliches System für alle deutschen Gesundheitsämter. Ich empfehle allerdings nicht, mitten in der Pandemie einen IT-Wechsel vollziehen zu wollen. Das wäre viel zu riskant.

Brauchen wir jetzt eine Perspektive für eine rasche Öffnung?

Ja, aber sie muss sicher und verlässlich sein. Wir haben nichts davon, wenn die Läden wieder öffnen, und in zwei Wochen machen wir sie wieder zu. Die Schnelltests werden noch einmal eine ganz andere Dynamik in die Öffnungsdebatte bringen, es wird normal werden, einen Schnelltest zu machen, bevor man ein Restaurant betritt. Die haben eine hohe Genauigkeit, man kann leicht mit ihnen umgehen. Wichtig ist: Es darf zu keinem dritten Lockdown kommen.

Ein Restrisiko wird nicht zu vermeiden sein.

Das ist wahr. Es wird eine Abwägung bleiben, und dieser Pflicht können wir uns nicht entziehen.

Wie sehr ärgert Sie die Diskussion über die schleppende Impfung?

Zunächst: Ich stehe voll und ganz hinter der europäischen Lösung. Es kann nicht sein, dass sich die großen und reichen Länder die Impfdosen sichern und die ärmeren warten müssen. Dass wir überhaupt Impfstoffe haben, ist fast ein Wunder. Ich habe im vergangenen März nicht damit gerechnet, dass wir im Dezember des selben Jahres mit dem Impfen anfangen können.

„Die Impfdiskussion zeigt, dass Kommunikation das A und O dieser Krise ist“

Die Diskussion um den Impfstoff von AstraZeneca hat die Impf-Bereitschaft anscheinend wieder verringert.

Ja, leider, in der Kommunikation sind Fehler gemacht worden. Dabei bietet auch dieses Vakzin Menschen unter 65 einen sehr wirksamen Schutz vor Infektion und schweren Vorläufen. Ich würde mich sofort damit impfen lassen. Aber auch hier gilt: Kommunikation ist das A und O bei dieser Krise.

Was hat sich für Sie persönlich in diesem Jahr geändert?

Es passiert jetzt öfter, dass Leute mir sagen, mit Ihnen möchte ich wirklich nicht tauschen. Die Liste der potenziellen OB-Kandidaten hat in der Krise anscheinend abgenommen (lacht). Im Ernst: Ich habe auch, wie man so schön sagt, den Kaffee auf. Ich will wieder ins Restaurant, ins Fußballstadion, ins Theater oder einfach Freunde einladen. Mir scheint, dass wir all dem näher kommen, auch weil wir gemeinsam durchgehalten haben. Dafür, dass sich die allermeisten klug und besonnen verhalten haben, möchte ich mich bei den Essenerinnen und Essenern ausdrücklich bedanken.