Essen. „Die Rechte der Kinder gehören ins Grundgesetz“, fordert der Essener Kinderschutzbund. Das könne ihre Lebenssituation konkret verbessern.

Die Forderung ist alt – und topaktuell: Am 20. November jährt sich das Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention zum 30. Mal. „Die Grundrechte der Kinder müssen nun endlich im Grundgesetz verankert werden“, sagt der Vorsitzende des Essener Kinderschutzbundes, Ulrich Spie. Das sei keine bloße Formalie, sondern stärke den Schutz der Kinder vor Diskriminierung und Gewalt ganz konkret, könne ihre Lebenssituation verbessern. Wie nötig das sei, könne man jeden Tag in Essen besichtigen.

Da fehle vielerorts der Freiraum zum Spielen, da seien die Chancen auf eine gute Bildung weiter ungerecht verteilt, weil Lehrer fehlen und Hilfsangebote für Kinder aus bildungsfernen Familien. Und schließlich habe sich die Zahl der Inobhutnahmen in den vergangen zehn Jahren verzehnfacht. „Dabei werden die Übergriffe immer gewalttätiger und treffen immer kleinere Kinder“, betont Spie.

„Wenn die Eltern versagen, muss der Schutz des Kindes Vorrang haben“

Es gehe nicht darum, die Rechte der Eltern grundsätzlich einzuschränken, es könne aber auch nicht sein, dass das Bestimmungsrecht der Eltern über ihre Kinder mehr zähle als das Wohl der Kinder. „Wenn die Eltern versagen, muss der Schutz des Kindes Vorrang haben“.

Bislang sei dieser Vorrang der Kinder in vielen Bereichen nicht gewährleistet, ergänzt Brigitta Goldberg, Professorin für Jugendhilferecht an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Bei zahlreichen Entscheidungen, die sie unmittelbar beträfen, würden Kinder weder als eigene Subjekte wahrgenommen, noch gar gehört. „Wären ihre Rechte im Grundgesetz festgeschrieben, würde sich das ändern.“

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Das gelte auch für jenen sensiblen Bereich, wo Jugendämter und – in letzter Instanz – Familiengerichte über das Schicksal von Kindern entscheiden, denen in ihren Familien Leid angetan wird. „Künftig müssten hier zwei Grundrechte gegeneinander abgewogen werden: das der Eltern und das der Kinder“, sagt Brigitta Goldberg. Heute werde vielen der Kinder jahrelange Unklarheit zugemutet, weil sie etwa zwischen leiblichen Eltern und Pflegefamilien hin- und herpendeln.

In anderen Fällen blieben die Kinder zu lange in einer gewalttätigen Umgebung, weil Jugendämter und Gerichte nicht beherzter „im Namen des Kindes“ entschieden, sagt Prof. em. Hans-Jürgen Schimke, langjähriger Vize-Vorsitzender des Kinderschutzbundes NRW. Er plädiere aber keineswegs dafür, Eltern ihre Kinder prinzipiell schneller wegzunehmen. „Wir wollen Familien möglichst nicht auseinanderreißen.“

Brigitta Goldberg ergänzt: „Auch in der Kinderrechtskonvention steht ja, dass Kinder bei ihren Eltern aufwachsen sollen.“ Dafür müsse man denen allerdings die richtige Hilfe geben, sie unterstützen – und fordern. Wie diese Unterstützung aussehen kann, ist zunächst Sache des Jugendamtes. „Manchmal reicht es schon, dass das Kind einen Platz in der Kita oder im Offenen Ganztag bekommt“, sagt der Leiter des Essener Jugendamtes, Ulrich Engelen. Oder, dass der Babysitterdienst für eine Entlastung der Eltern sorge.

Eine Lobby für die Kinder und ihre Rechte

Der Kinderschutzbund Essen e.V. betreibt stadtweit 20 Einrichtungen, in denen 350 Fachkräfte arbeiten und sich 500 Ehrenamtliche engagieren. Das Spektrum reicht von Kitas und Familienzentren über Beratungs- und Bildungsangebote wie den Lernhäusern bis zu den Kindernotaufnahmen „Spatzennest“ und „Kleine Spatzen“. Der Kinderschutzbund versteht sich auch als Lobby für Kinder.

Anlässlich des 30-jährigen Bestehens der UN-Kinderrechtskonvention lud der Kinderschutzbund Essen am Dienstag (19.11.2019) zum Fachtag unter dem Titel „Welterbe Kinderrechte!“ auf Zollverein. 250 Mitarbeiter von Kitas, Jugendhilfe, Kinderschutzbund etc. nahmen teil. In Vorträgen, Podiumsgespräch und Workshops ging es u.a. um die Umsetzung der UN-Kinderrechte im pädagogischen Alltag von Kitas und Schulen.

In den krassen Fällen wiederum, wo Kinder etwa misshandelt oder missbraucht würden, sei die Inobhutnahme unvermeidlich. Kopfzerbrechen bereiten den Praktikern jene Fälle, bei denen sich nicht klar voraussagen lässt, ob die Eltern die Hilfe nutzen können, um ihre Aufgaben gegenüber den Kindern wahrzunehmen – oder nicht. Bis zu 30 Prozent aller Familien seien (zeitweilig) überfordert; deswegen könne man nicht allen das Sorgerecht entziehen.

Der Fall Luis lässt das Essener Jugendamt nicht los

Wie heikel solche Abwägungen sind, hat das Jugendamt Essen in jüngster Zeit zweimal erleben müssen: Da verdurstete im Sommer der zweijährige Luis, den sein Vater 18 Stunden lang eingeschlossen hatte. Da wurde der drei Monate alte Liam im Oktober beinahe von seinem Vater mit Feuchttüchern erstickt. So etwas lasse niemanden kalt, doch man habe es nicht vorhersehen können, sagt Ulrich Engelen. „Trotzdem lastet seither auf meinen Mitarbeitern ein enormer Druck.“