Essen. Lena kann kaum laufen und fährt 3000 Kilometer Rad. Sie spricht nicht und wird mit ihren Schwestern konfirmiert. Ihre Familie macht es möglich.
Lena krabbelt quer durchs Wohnzimmer zu Familienhund Anton, legt ihre Hand auf das Fell des gutmütigen Deutsch-Kurzhaar. Was die 17-Jährige dabei fühlt, ist ihr Geheimnis. „Lena unterscheidet kein Stofftier von einem Kochlöffel oder einem Messer. Sie ordnet den Gegenständen, die um sie herum sind, keine Funktion zu. Sie reagiert nicht, wenn wir ein Buch vorlesen oder auf Fernsehprogramm. Wir wissen, dass sie unsere Wörter hört – aber nicht, ob sie sie auch versteht. Sie selbst spricht nicht“, versucht Vater Arndt Paykowski, die schwere Behinderung seiner Tochter zu erklären. Ihr Leben lang wird sie auf fremde Hilfe angewiesen sein, muss gefüttert und gewickelt werden.
Schon im Bauch sei Lena ein ungewöhnlich ruhiges und passives Baby gewesen, „ich hing am Ende ständig am Wehenschreiber“, erinnert sich Mutter Katharina Paykowski an ihre Schwangerschaft. Ihre Tochter wird drei Wochen vor dem errechneten Termin per Kaiserschnitt auf die Welt geholt.
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Auf die Frage, ob mit ihrem Kind alles in Ordnung sei, hätten die Ärzte damals ausweichend reagiert, weiß die 49-Jährige noch. Lena sei ein „Päppelkind“ und müsse noch etwas zu Kräften kommen, heißt es zunächst. Lena wird in die Kinderklinik nach Niederberg verlegt. „Als ich dort über den Flur gelaufen bin, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass Lena anders ist. Mir war klar, dass das eine besondere Herausforderung wird“, erinnert sich Arndt Paykowski. Der schwere Grad der Behinderung aber soll sich erst viel später herausstellen.
Ein wiederkehrender Rhythmus im Alltag gibt Lena Halt
„In der Krabbelgruppe wurde der Entwicklungs-Unterschied zu den gleichaltrigen Kindern dann immer größer“, sagt Katharina Paykowski. Viele Untersuchungen folgen, eine konkrete Diagnose bleibt aber aus: bis heute. Während dieser Zeit wird Katharina Paykowski wieder schwanger.
„Das war nicht mutig, sondern Gottvertrauen“, sagt Arndt Paykowski heute. Ein Arzt empfiehlt dem Paar damals „durch die Blume“, über eine Abtreibung nachzudenken, erinnert sich Katharina Paykowski: „Das wäre nie ein Thema für uns gewesen.“ Ebenso wenig wie die Frage nach Lenas Pflege zu Hause. Einige Monate später wird Annika geboren, zwei Jahre später Tochter Meike. Zwei gesunde Kinder, die mittlerweile Teenager sind.
Der Alltag bei den Paykowskis unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von dem anderer Familien: Um 6 Uhr klingelt der Wecker, 45 Minuten lang nehmen sich die fünf anschließend Zeit fürs Frühstück. „Lena zu füttern, erfordert Geduld, davon hat meine Frau mehr als ich, deswegen übernimmt sie diese Aufgabe“, erklärt Arndt Paykowski. Die Pflege Lenas bedeutet für die Familie vor allem eines: eine gut abgestimmte Organisation. Ein wiederkehrender Rhythmus gibt Lena Halt, weiß Arndt Paykowski: „Sie schläft dann besser und ist viel ruhiger.“
Zum Alltag gehört auch für Lena der Schulbesuch: Täglich fährt sie ein Mini-Bus mit ein oder zwei anderen Kindern nach Steele zur Pestalozzi-Förderschule. Vater Arndt Paykowski bringt die anderen beiden Töchter durchs nahe gelegene Nachtigallental zur U-Bahnstation auf der Margarethenhöhe, auch Hund Anton ist immer mit von der Partie.
Vater Arndt joggt und radelt regelmäßig mit Lena – rund 3000 Kilometer im Jahr
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In dem bei Spaziergängern und Radlern beliebten Waldstück ist die Familie aber aus einem anderen Grund bekannt: Das auffällige Tandem, mit dem Arndt Paykowski und Lena an vielen Nachmittagen gemeinsam unterwegs sind. Rund 3000 Kilometer im Jahr bewältigen Vater und Tochter gemeinsam: Wenn nicht fahrend, dann joggend samt geländegängigem Wagen, in dem Lena sitzt. Beide Hilfsmittel zahlte die Familie aus eigener Tasche – wie so vieles, das den Alltag erleichtert. „Wir sind in der sehr glücklichen Lage, wirtschaftlich gut aufgestellt zu sein. Ansonsten wäre die Teilhabe von Lena in vielen Bereichen schwieriger“, sagt Arndt Paykowski, der gemeinsam mit seiner Frau als privater Träger das Aus- und Weiterbildungsinstitut WIPA, das Berufskolleg Rhein-Ruhr und die Kita Pfiffikus in der Essener Innenstadt betreibt.
Ein Antrag bei der Pflegekasse auf Übernahme der Kosten für das 10.000 Euro teure Spezial-Tandem etwa bleibt ohne Erfolg: es sei unverhältnismäßig, die Familie könne alternativ ein günstigeres Therapie-Dreirad bekommen, heißt es.
„Ohne dieses Tandem und den geländegängigen Buggy mit Elektro-Antrieb wären wir aber nicht inklusiv, hätten etwa unseren Familien-Wanderurlaub in den Herbstferien nicht so gestalten können“, erklärt Arndt Paykoswki. Nicht nur finanziell, auch zeitlich würde sich vor allem Mutter Katharina Paykowski mehr Entlastungsangebote wünschen: „Speziell die Betreuung Lenas in den Ferien ist immer eine Herausforderung. Was mir fehlt, ist Zeit für mich selbst.“
Pflegesachverständige fordert mehr Entlastung für Angehörige in der häuslichen Pflege
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Claudia Schröder von der Familien- und Krankenpflege (FuK) unterstützt die Familie seit vielen Jahren und weiß um die Schwierigkeiten, die häusliche Pflege mit sich bringt. Sie kritisiert vor allem das Dickicht der Pflegeversicherung und hat einen Ratgeber veröffentlicht, der etwas Licht ins Dunkle bringen soll: „Für alle Familien, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen, ist der Alltag schwer genug. Er sollte nicht zusätzlich mit Bürokratie belastet werden“, findet die diplomierte Pflegesachverständige.
Sie half den Paykowskis etwa, vor dem Sozialgericht einen höheren Behinderungsgrad für Lena zu erstreiten. Wenn es um Freiräume für die anderen Familienmitglieder geht, helfen alle Ansprüche auf Kurzzeit- und Verhinderungspflege aber im Fall der Paykowskis nur wenig: „Während der Ferien und anderer Randzeiten gibt es keine akzeptable Lösung für die Betreuung behinderter Kinder“, kritisiert Claudia Schröder.
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Wie wichtig die Entlastung für jedes einzelne Familienmitglied ist, weiß Vater Arndt selbst zu gut. Mit den beiden gesunden Töchtern fährt er jedes Jahr in den Skiurlaub – „sie sollen nicht immer das Gefühl haben, durch Lena gebremst zu werden“, sagt er. Dabei lieben Annika und Meike ihre ältere Schwester, kümmern sich rührend um Lena: Die beiden hatten auch die Idee zur inklusiven Konfirmation, die die Drei in diesem Jahr mit Hilfe des Behindertenreferats gemeinsam feierten. „Wenn wir das machen, dann nur alle gemeinsam“, waren sie sich einig.
Was die besondere Herausforderung im Alltag mit behindertem Kind sei? „Gesund und glücklich zu bleiben“, sagt Arndt Paykowski. Für eine gelungene Inklusion in der Familie wie auch in der Gesellschaft gelte überall das gleiche, sagt der Familienvater: „Es muss genug Verstand, genug Herzblut und Liebe sowie genug Geld im System sein.“