Essen. Ein Schicksalsschlag zerstört das alte Leben von Ferihan Aydin: Mit 19 ist sie pflegebedürftig, muss in ein Altenheim. Jetzt zog sie in eine WG.
Als Ferihan Aydin 19 Jahre alt war, zog sie ins Altenheim. Eben noch ein fröhlicher Teenager, war sie nun umgeben von Stille und Sterben. Man sagt, in diesem Alter liege das ganze Leben vor einem. Für Ferihan musste es wie ein Fluch klingen.
Ein halbes Jahr zuvor hatte sie noch das Robert-Schmidt-Berufskolleg besucht, den Hauptschulabschluss angesteuert; gern getanzt, einen Urlaub in Griechenland geplant. Sie sollte ihr Reiseziel nie erreichen. Am 6. Juni 2015 nämlich, so erinnert sich ihre Schwester Yasemin Ekinci, stürzte Ferihan. Erst zu Boden, dann ins Bodenlose.
Sie sprach kein Wort, schrie nur vor Schmerzen
„Sie hatte schon lange immer wieder Kopfschmerzen und Schwindel gehabt, sich übergeben – das hatten wir für Migräne gehalten“, erzählt Yasemin Ekinci (28). Nach dem Sturz verschlechtert sich Ferihans Zustand rasant, obwohl die 18-Jährige sofort ins Krankenhaus kommt.
In den folgenden Monaten reihen sich Aufenthalte in Krankenhäusern und Reha-Kliniken aneinander. Es habe einige Diagnosen – etwa Multiple Sklerose – gegeben, viele Therapien, nur keine Besserung. Ferihans Familie ist verzweifelt, und Yasemin Ekinci ringt noch drei Jahre später um Fassung, wenn sie von dieser Zeit erzählt. Wie Ferihan im Wachkoma lag, wie später ihr Kopf herunterhing, „fast ins Essen“. Sie isst nichts, bekommt eine Magensonde. „Einmal wachte sie auf und schrie vor Schmerzen. Ständig. Obwohl sie Schmerzmittel bekam.“
Nach der Reha kann sie nicht zurück in ihre Wohnung
Yasemin besucht ihre Schwester morgens, in der Mittagspause und nach Feierabend. Gesprochen habe Ferihan kein Wort. „Zu Nikolaus 2015 rief mich eine meiner Schwestern an: Ferihan hat geredet! Das war so unglaublich, wir hatten ja gedacht, wir hätten Ferihan verloren!“
Nun wird festgestellt, dass sie an den Folgen einer Gehirnhautentzündung leidet, wohl auch einen Schlaganfall hatte. Sie kommt erneut in die Reha, erholt sich. „In Hattingen war es sehr schön, aber der Abschied war das Schlimmste“, sagt sie heute. Denn sie ist nun auf einen Rollstuhl angewiesen, eine Rückkehr in ihre Wohnung undenkbar. Nur: Wo kann sie leben?
„Es war die Hölle“, sagt sie über die Zeit im Altenheim
Yasemin Ekinci holt die Familie zusammen, den Vater, die Geschwister, die Mutter reist aus der Türkei an. Die ganze Zeit haben sie Ferihan begleitet, zu jedem Fest ihr Krankenzimmer geschmückt, „für die Moral“, wie Yasemin sagt. Nun kapitulieren sie. Ferihan braucht Intensivpflege, rund um die Uhr – und sie lebt jetzt von Sozialleistungen.
Am Ende entscheidet ihre Betreuerin, dass Ferihan in ein Seniorenheim in Wuppertal kommt. „Ich weiß nicht, warum wir das akzeptiert haben“, sagt Yasemin Ekinci. „Wir waren erschöpft.“ Also zieht ihre kleine, erst 19 Jahre alte Schwester im Januar 2016 in das Altenheim in Wuppertal. Ihre Familie kommt jetzt etwas zu Atem, sie selbst sagt: „Es war die Hölle.“
„Die alten Leute wollten immer Bingo spielen“
Sie möchte nicht ungerecht sein, die Pflege sei gut gewesen: Das Personal freut sich über die junge Frau, die Fortschritte macht, von der Sprachtherapie profitiert, eine Zukunft hat. „Die Omis waren auch süß, aber sie starben wie die Fliegen“, sagt Ferihan. Fast immer ist sie im Zimmer, guckt DVDs. „Die alten Leute wollten immer Bingo spielen. Das war nicht mein Ding. Und sonst war es dort so schrecklich leise.“
So oft wie möglich kommen die Geschwister zu Besuch oder holen sie nach Essen. In Wuppertal aber wird sie depressiv, träumt vom Umzug. Irgendwann liest Yasemin in einer Broschüre von einer Wohngemeinschaft in Frohnhausen: Junge köperbehinderte Leute mieten da ein Zimmer und engagieren eine Assistenzkraft, die sie im Alltag begleitet: das Lüttringhaus (Infobox). „Wir haben Luftsprünge gemacht!“
Sie hat ein neues Zuhause gefunden: „Hier ist Leben!“
Wieder gibt es finanzielle und bürokratische Hürden, doch das Lüttringhaus-Team räumt die aus dem Weg: Im Juli 2018 zieht Ferihan in die WG an der Gervinusstraße: das Ende ihrer Odyssee. „Es waren harte Jahre. Jetzt bin ich zu Hause.“ 40 Gäste kamen zur Einweihungsparty, auch zwei Pflegerinnen aus Wuppertal. Ferihan hat ein farbenfrohes Zimmer, sitzt gern mit ihrer Familie auf der Terrasse, verreist mit den Mitbewohnern. „Hier ist Leben!“
Es ist nicht ihr altes Leben. Sie sitzt im Rollstuhl, ringt mit den Worten, kann sich schlecht konzentrieren. Erzählt, wie gern sie früher getanzt habe: „Ich will wieder tanzen.“ Sie macht jetzt Pläne, konnte die Antidepressiva absetzen. „Es ist toll hier. Endlich sterben mir meine Freunde nicht immer weg.“
VERBAND: DER LEBENSPLAN BRICHT ZUSAMMEN
„Für junge Menschen, die aufgrund einer Erkrankung oder eines Unfalls plötzlich pflegebedürftig werden, brechen Weltbild, Lebensplan und oft auch das soziale Netz weitgehend zusammen“, sagt Natalie Tauchert, Geschäftsführerin des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen. In dieser Schocksituation müssten sie dann klären, wo sie wohnen können und wie sie versorgt werden.
Dabei finden sie laut Tauchert oft zu wenig geeignete Unterstützung: Denn das Klinik- und Reha-Personal sei vielfach nicht genügend informiert, welche Möglichkeiten es im Anschluss an die medizinische Versorgung gebe.
Wer seit der Geburt hohen Pflege- und Hilfebedarf habe, wachse in einem guten Netzwerk auf: von Kita bis Frühförderzentrum – überall träfen Angehörige Berater, die sie im Kampf für das Recht auf die Teilhabe ihrer Kinder begleiteten. „Ein solches Netz gibt es für Erwachsene, die plötzlich auf Unterstützung angewiesen sind, nicht.“ Es gebe zwar die persönliche Assistenz mit bis zu 24 Stunden Begleitung, aber es koste Zeit, Kraft und Ausdauer, sie durchzusetzen.
Lotsen müssen durch die komplexe Bürokratie führen
Es fehlten Lotsen, die sich den Menschen widmeten, deren Lebensplan neu aufgestellt werden müsse. Experten, die sie durch das komplexe Antragswesen führten. Denn da würden Zuständigkeiten zwischen Renten-, Pflege-, Krankenkasse, Agentur für Arbeit und Sozialhilfeträger oft hin- und hergeschoben.
Wenn dann die Reha auslaufe und der Betroffene nicht in sein Zuhause zurückkehren könne, gerieten Angehörige unter Zeitdruck. Da würden „Notplätze“ gesucht – auch in Seniorenpflegeheimen oder gerontopsychiatrischen Einrichtungen. „Mit Glück findet man von da aus eine gute Lösung.“ Um Betroffenen zuverlässiger zu helfen, brauche es gutes Personal, Information über vorhandene Angebote und eine funktionierende Kooperation der Kostenträger. Hilfreich sei die „unabhängige Teilhabeberatung“ (EUTB), die seit Anfang 2018 aufgebaut wird: Hier gebe es Ansprechpartner, die weiterhelfen können.
>>> WG FÜR JUNGE LEUTE MIT HANDICAP
„Lüttring-Haus all inclusive“ heißt die Wohngemeinschaft an der Gervinusstraße (Frohnhausen), in der bis zu sieben junge körperbehinderte Leute leben.
Die WG soll ihnen ein selbstbestimmtes Leben eröffnen und Hürden in Haus und Umfeld beseitigen. Dabei hilft der Verein „Emma+wir“ (Eigenständig Mobil Miteinander Aktiv, Info: www.luettringhausallinclusive.de). Das Lüttring-Haus versteht sich auch als Treffpunkt im Stadtteil.