Essen. Nach dem Freispruch für einen 18-Jährigen Essener, der einen anderen Jungen (14) erstochen hat, hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt.

Die Eltern des 14 Jahre alten Opfers warteten die Urteilsbegründung nicht mehr ab: Als sie hörten, dass der Jugendliche, der ihren Sohn erstochen hat, freigesprochen wird, sprangen sie auf und eilten aus dem Gerichtssaal. Sie hatten den Prozess vor dem Landgericht Essen als Nebenkläger verfolgt, eine Bestrafung des Täters erwartet.

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„Für sie ist das ganz schlimm“, weiß auch André Wallmüller, der den Angeklagten verteidigt hatte. Der Rechtsanwalt gibt aber zu bedenken, dass der heute 18-Jährige selbst angegriffen worden war und in Notwehr gehandelt habe. Und: „Der ist nicht kriminell, hatte sich vorher nichts zuschulden kommen lassen.“

Ein Polizeihund zog den stark alkoholisierten Täter aus dem Gebüsch

Der damals 17-Jährige, den Wallmüller an jenem Sonntag, 19. April 2020, gegen Mittag kennenlernte, war ein Häufchen Elend. In der Nacht hatte er den erst 14 Jahre alten M. an einer Bushaltestelle im Hörsterfeld erstochen, mit einem einzigen tödlichen Stich. Mit einem Großaufgebot und Hubschrauber suchte die Polizei nach dem Täter. Ein Hundeführer habe ihn schließlich in einem Gebüsch im Umfeld des Tatortes gefunden. Zusammengesunken, nicht ansprechbar: 2,45 Promille ergab ein Blutalkoholtest. Auch Cannabis hatte der Jugendliche konsumiert. „Er war so dicht, dass er erst ein Lebenszeichen von sich gab, als der Hund ihn aus dem Gebüsch zog“, erzählt Wallmüller.

Bei der Festnahme sei der Jugendliche fix und fertig gewesen, habe hemmungslos geweint. Er werde wohl unter der Benebelung geahnt haben, dass er den 14-Jährigen getötet hatte. Der Bluttat vorausgegangen war ein banaler Streit mit Jugendlichen, von denen ihn die meisten gar nicht kannten. Der Täter lebt in Kray, wollte im Nachbarstadtteil Horst ein Mädchen sprechen, von dem er sich hingehalten fühlte. Das Mädchen feierte mit Freunden im Hörsterfeld einen Geburtstag, bei dem viel Alkohol floss.

Partygäste zogen los, um den späteren Täter anzugreifen

Per WhatsApp warnte das Mädchen den späteren Täter, er solle abhauen, sonst würden ihre Freunde ihn verprügeln. Doch der betrunkene Jugendliche blieb, er habe ja ein Messer. Einige Partygäste zogen los, um ihn aufzuspüren. Das spätere Opfer M. habe da schon bei der Freundin im Bett gelegen, sagt André Wallmüller. Ein ebenfalls erst 14-Jähriger Wortführer habe ihn rausgeklingelt, als Verstärkung. Mit Regenschirmen bewaffnet, hätten sie seinem Mandaten aufgelauert „und ohne Vorwarnung auf ihn eingeprügelt“. Auch als er beim Versuch wegzulaufen, stürzte und am Boden lag.

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Wer in den Tagen nach der Tat, als das ganze Hörsterfeld trauerte, mit den zahlreichen jugendlichen Zeugen sprach, hörte eine andere Version der Ereignisse. Da wurde der spätere Täter als alleiniger Aggressor dargestellt, der die feiernden Jugendlichen erst angepöbelt, dann angegriffen habe. Anwalt Wallmüller glaubt, dass der 14-jährige Wortführer den Zeugen eingebläut hatte, zum wahren Tathergang zu schweigen.

Vor dem Landgericht aber waren die jungen Zeugen zur Aussage verpflichtet. Und sogar der 14-jährige Wortführer selbst habe ausgesagt, obwohl er das nicht gemusst hätte: Denn er gilt als Beschuldigter, gegen ihn wird wegen gemeinschaftlicher, schwerer Körperverletzung ermittelt – wegen der Schirmattacke auf den damals 17-Jährigen. „Er hat erzählt, er habe mit dem Schirm wie mit einem Baseballschläger zugeschlagen“, sagt Wallmüller. Damit hat sich der Junge selbst belastet. Er hat so aber auch die Deutung des Anwalts gestützt, dass sein Mandant in einer Notwehrsituation zugestochen habe: am Boden liegend, schweren Angriffen ausgesetzt.

Schwere Drohungen gegen Angeklagten in sozialen Netzwerken

Schon bald nach der Tat soll sich diese Version im Hörsterfeld verbreitet haben; auch der Polizei sei sie bald bekannt gewesen. Die Beamten hätten sogar die Eltern des Opfers aufgesucht und ihnen gesagt, dass ihr Sohn vermutlich nicht überraschend in einen Konflikt geriet, „sondern gezielt dahingegangen ist“. Man habe verhindern wollen, dass es zu Racheakten komme. Trotzdem machten in sozialen Netzwerken bald schwere Drohungen gegen den Angeklagten die Runde, auch seine Mutter wurde bedroht.

Hat den 18-Jährigen vor dem Landgericht Essen verteidigt: Rechtsanwalt André Wallmüller.
Hat den 18-Jährigen vor dem Landgericht Essen verteidigt: Rechtsanwalt André Wallmüller. © WAZ FotoPool | Oliver Müller

Aus der Untersuchungshaft sei der Jugendliche bald entlassen worden, sagt sein Anwalt. Man habe ihn aber in einer „Haftvermeidungsstelle“ untergebracht, eine Art Heim, wo er eingesperrt war – und in Sicherheit. Seit Mittwoch (16.12.) aber ist der Junge frei und könnte zu seiner Mutter zurückkehren, wovon ihm sein Anwalt angesichts der weiter erhitzten Lage im Hörsterfeld aber dringend abrät. Wallmüller sähe ihn einstweilen lieber weiter in dem Heim, habe ihm geraten, die Unterstützung des Jugendamtes anzunehmen.

Erst mit seinem „letzten Wort“ bricht der Angeklagte das Schweigen

Der Jugendliche, der nach seinem Schulabschluss eine Ausbildung zum Stuckateur angefangen hatte, brauche nun Hilfe: „Dann gerät der nicht auf die schiefe Bahn“, glaubt Wallmüller. Der heute 18-Jährige, der auf Anraten seines Anwaltes während des gesamten Prozesses geschwiegen hatte, wandte sich in seinem „letzten Wort“ an die Eltern seines Opfers, entschuldigte sich. Er wisse, dass diese Entschuldigung, ihren Jungen nicht zurückholen könne.

Hat bereits Revision gegen den Freispruch eingelegt: Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens.
Hat bereits Revision gegen den Freispruch eingelegt: Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens. © Kerstin Kokoska/WAZ FotoPool | Kerstin Kokoska

Auch für den Angeklagten, der sich in psychologischer Behandlung befindet, endet die schreckliche Geschichte mit dem Freispruch nicht. Da ist einmal die Staatsanwaltschaft, die vier Jahre Haft gefordert hatte. Sie habe darauf abgehoben, dass der Angriff schon beendet gewesen sei, der Angeklagte also nicht in Notwehr gehandelt habe, sagt Wallmüller. Zu Details aus der nicht-öffentlichen Verhandlung äußert sich Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens nicht, sie bestätigt aber am Tag nach dem Urteil: „Ich habe bereits Revision eingelegt.“

Auch wenn am Ende der Freispruch bestätigt werden sollte: Der Angeklagte lebt. Ein anderer Junge aber ist durch seine Hand gestorben. Und das, hätten auch die Richter betont, „wird er sein ganzes Leben lang herumschleppen“.

So hatte unsere Redaktion vor einigen Monaten berichtet:

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