Essen. Ein 17-Jähriger tötet einen 14-Jährigen, arabische Großfamilien kämpfen auf offener Straße. Was passiert in der Großwohnsiedlung Hörsterfeld?
Wo Welten nebeneinander existieren, wo gegensätzliches so nah beieinander ist, wo die Polizei zuletzt immer wieder mit dem großen Besteck auffahren musste, da ist das Hörsterfeld. Essens berüchtigtes Großwohnviertel.
Es gibt Gegenden mit einem guten Ruf, und es gibt das Hörsterfeld. Die Großsiedlung für rund 6000 Menschen im Osten der Stadt gilt vielen als seelenloses Hochhaus-Ghetto, als Mahnmal verfehlten Städtebaus. Doch es gibt auch eine ganz andere Perspektive auf das Viertel. Ein Streifzug durch das Hörsterfeld.
Ab 1973 wurde das Hörsterfeld errichtet. Auf Äckern der Stadtteile Leithe, Horst und Freisenbruch entstanden die Großsiedlungen Isinger-, Hörster- und Bergmannsfeld. In die riesigen Wohnblöcke in Horst zogen Menschen ein, die sich als modern bezeichneten, die das neue Wohnen auch als politischen Ausdruck verstanden – als wünschenswertes, gesellschaftliches Verhältnis von Gleichheit und Gemeinschaft. Modern und lebenswert sollte es sein und damit es reichlich Grün blieb, wuchsen die Bauten in die Höhe.
Das Hörsterfeld, es könnte ein Rundum-Sorglos-Örtchen sein. Ein kleines Dorf mit Spielplätzen, einer Kita, Ärzten und einer kleinen Ladenpassage.
Doch schon wenige Jahre nach dem hoffnungsvollen Start kippte der Ruf dieser Siedlung. Geschäfte siedelten sich nur zögerlich an, es gab bauliche Probleme – Teile des Viertels waren unter größtem Zeitdruck entstanden. Immer wieder wechselten die Eigentümer der schmucklosen Betonklötze. Mangelnde Investitionen führten dann zu Sanierungsstau statt zu guter Nachbarschaft, die Kriminalität stieg. Der Verfall nahm seinen Lauf.
Siedlungspolitik der Stadt Essen in der Kritik
Die Stadt siedelte mit der Zeit zunehmend Sozialfälle an. „Mau-Mau-Siedlung“ nannten die Leute deshalb das Viertel abfällig. Davon haben sich Bergmanns- und Hörsterfeld bis heute kaum erholt. Seit Jahrzehnten ist der Migrantenanteil im Hörsterfeld hoch. Viele Spätaussiedler aus Russland und aus Polen sind hier hergezogen und auch sonst leben viele weitere Nationalitäten auf engstem Raum zusammen. Inzwischen sind auch rund 200 Flüchtlingsfamilien – hauptsächlich aus Syrien – in den Wohnblöcken beheimatet.
Blutige Auseinandersetzungen auf offener Straße
Zuletzt waren einige Syrer an zwei Massenschlägereien beteiligt. Auf offener Straße im und um das Hörsterfeld herum lieferten sie sich blutige Auseinandersetzungen mit Libanesen. Messer, Eisenstangen und Pfefferspray kamen dabei zum Einsatz, Autoreifen wurden zerstochen, eine Windschutzscheibe demoliert. Schaulustige hielten die Szenen in Handyvideos fest. Dass niemand schwerer verletzt wurde, ist wohl vor allem dem schnellen Eingreifen der Polizei zu verdanken. „Wir werden verstärkt kontrollieren und mit Streifenwagen vor Ort sein“, sagt Polizeisprecherin Sandra Steinbrock. Es gehe darum, weitere Straftaten zu verhindern. Auch wenn die Ermittler den genauen Grund für die zwei Straßenkämpfe mit insgesamt 13 Verletzten noch nicht kennen, „ist zu vermuten, dass man weiter aneinanderrasselt“.
Dem Vernehmen nach liegt dem Konflikt ein inner-arabischer Rassismus inne. Einige Syrer blickten auf die Libanesen herab, hielten sie für wenig zivilisiert. Aus dieser Grundhaltung heraus eskaliere die Situation dann auch schneller, wenn sich die Wege im übertragenem und im Wortsinne kreuzten, berichten Kenner der migrantischen Community in Essen.
Hunderte trauerten zusammen um einen Jungen aus dem Hörsterfeld
Für den Mikrokosmos Hörsterfeld eine beunruhigende Entwicklung, die das Viertel just in dem Moment wieder in Verruf bringt, da es noch um einen 14-Jährigen trauert, der nur rund zwei Wochen zuvor neben der Bushaltestelle Carl-Wolf-Straße am Von-Ossietzky-Ring erstochen wurde – von einem 17-Jährigen.
Hunderte Freunde und Nachbarn trauerten zusammen auf der Straße um den Jungen. Die Behörden ließen sie trotz Corona-Kontaktverbot gewähren. Auch drei Wochen nach erschütternden Tat erinnern handgeschriebene Plakate an der Bushaltestelle an den 14-jährigen M. aus dem Hörsterfeld: „Bruder, du fehlst uns.“...
Am Von-Ossietzky-Ring – von einigen wegen der zahlreichen Russlanddeutschen nur Von Ossi-Ring genannt – liegen Blumen, Engelsfiguren, kleine Kreuze. Je nachdem aus welcher Richtung man auf dieses Mahnmal blickt, entsteht ein Blick auf diesen Ausschnitt von Horst, der unterschiedlicher kaum sein kann.
Auf der einen Seite die tristen Hochhausbauten, in denen vor seinem Tod auch der junge M. wohnte. Auf der anderen Seite schmucke Ein- und Zweifamilienhäuser mit akkurat gemähten Vorgärten. Suchten die Macher des Duden ein Bild, um „Kontrast“ zu visualisieren, hier würden sie fündig.
Weite Wiesen und der Abenteuerspielplatz
Wer in Horst aufgewachsen ist, wie WAZ-Redakteurin Dominika Sagan, der hatte diesen Gegensatz schon in den 1980er Jahren vor Augen und sah ihn doch mitunter nicht. Zumindest nicht aus Kinderaugen, weil diese nicht die Auseinandersetzungen zwischen Großfamilien sehen, nicht den Streit zwischen rivalisierenden Gruppen registrieren, sondern die weiten Wiesen mit ihrem Abenteuerspielplatz und die zahlreichen Spielflächen, die sich in der Mitte eines jeden Häuser-Carrés befinden.
Der andere Blick auf das Hörsterfeld - Erinnerungen einer Redakteurin, die hier aufwuchs
Schon damals hießen meine Mitschüler und Freunde Anke, Andreas und Maik ebenso wie Wahidullah, Kadisha oder Justyna, doch war das weder ein Problem, noch ein Thema – zumindest für uns Kinder nicht. Wer hier Altersgenossen zum Spielen abholen wollte, hatte in dem kinderreichen Viertel schon immer zahllose Klingeln, an denen er schellen konnte.
Mädchen und Jungen führten den Nachbarshund aus, ich wartete unter dem Balkon, bis meine Großmutter zwei Mark hinunter warf, um diese gleich wieder im Tante-Emma-Laden für die gemischte Tüte auszugeben, oder wir tobten auf dem Wasserspielplatz. Alles in einem Umkreis von wenigen hundert Metern erreichbar, alles ohne stark befahrene Straßen, so dass schon wir Grundschüler uns bald selbstständig auf den Schulweg machen konnten, ohne dass Eltern hätten besorgt sein müssen. Wer es nicht besser wusste oder es allein dank seines jungen Alters nicht wahrnehmen konnte, erlebte in Horst, auch im Hörsterfeld, vor allem eins: eine unbeschwerte Kindheit.
Eines ist dieses Quartier ganz sicher nicht: homogen
Wohnten die einen Familien in den Hochhäusern, nicht weil sie bewusst dorthin zogen, sondern weil es die Siedlungspolitik der Stadt so vorsah, kauften andere ihre großzügige Eigentumswohnung oder bauten ein Reihenhaus in dem grünen Viertel. Die einen kamen in den Stadtteil, weil in ihrer Heimat ein Krieg wütete, andere, um sich den Wunsch nach dem Eigenheim zu erfüllen. Und so bilden die Menschen hier seit langem eine Mischung aus gebürtigen Horstern, aus Hinzugezogenen, Spätaussiedlern wie Asylsuchenden. Nur eines ist der Stadtteil, ist vor allem das Quartier, genau dadurch nicht: homogen.
Wer schon in den 1980er Jahren realisierte, dass das Viertel nicht nur Natur mit seiner Nähe zur Ruhr und die einst so gut funktionierende Ladenstraße mit ihren Boutiquen, Lebensmittelgeschäften und dem Kino bot, sondern ebenso manchen Konflikt barg, der zog weg - wenn es ihm möglich war. Auch wegen der Kinder. Oder er blieb, weil das Hörsterfeld für viele längst Heimat ist.
Sie leben nach wie vor in den Wohnhäusern, in deren Innenhöfen inzwischen neue, moderne Spielplätze entstanden sind, zwischen denen die weiträumigen Grünanlagen tadellos gepflegt sind. Besser instand gehaltene Mehrfamilienhäuser stehen neben Hochbauten, deren Sanierung seit Jahren überfällig ist.
Ruf des Viertels schmerzt Hörsterfelder
Die Alteingesessenen aber schmerzt nicht nur der schlechte Ruf und der Niedergang ihrer Ladenstraße mit ihren heutigen Leerständen, sondern schon der Begriff „Hörsterfeld“, weil sie sich als Horster fühlen und diese Sonderrolle nur schwer ertragen.
Tatsächlich blickt wiederum mancher Horster, der im Stadtteil Richtung Dahlhauser Straße lebt, wo sich zahlreiche Geschäfte sowie die traditionsreiche Konditorei Ruhrmann und das Restaurant Hannapel - seit jüngstem mit einem Stern ausgezeichnet - befinden, seit Jahrzehnten wenig wohlwollend aufs Hörsterfeld. Weil der Ärger bereits recht früh begonnen habe, sagen manche; weil er vorhersehbar gewesen sei, glauben einige. Früh gab es verschiedene Gruppen, die immer wieder aneinander gerieten, den Stadtteil in Verruf brachten und für Unruhe sorgten - wie heute, nur waren es damals halt andere Gruppen.
Skeptisch schauen einige Horster daher mitunter nach wie vor auf die hohen Bauten, die man ihnen hier seit den 1970er vorsetzte und auf das Konfliktpotenzial, das diese enge Lebensform wie die vielen unterschiedlichen Kulturen und Nationalitäten auf so dichtem Raum mit sich brachten. Der Argwohn führte so weit, dass sich schon in den 1980ern bei manchem in der Horster Kirchengemeinde sogar Missmut regte, weil katholische Kinder aus dem Hörsterfeld mit zur Kommunion gehen sollten. Das taten sie dann auch, es änderte aber an der ein oder anderen mehr oder weniger sichtbaren Grenze im Stadtteil bis heute nichts.
Im Hörsterfeld selbst ist es der Von-Ossietzky-Ring, der nicht nur die Wohnwelten spaltet, sondern den Kontrast der Lebenswelten hervorhebt: Hochhaus versus Reihenhausidylle.