Essen. Annika Henrich hat im Sommer 2019 ein Frühchen bekommen. Damit begann eine Zeit der Ungewissheit: Schafft es das? Wird es gesund werden?

Kurz bevor Annika Henrich* ihr Kind das erste Mal sieht, warnt die Krankenschwester. Die Kabel, die in das Neugeborene führen, der winzige, nur 31 Zentimeter große Körper, der Brutkasten, der aussieht wie ein kleines Raumschiff, Apparate, die blinken und piepen – der Anblick sei verstörend. Die Krankenschwester rollt Henrich noch im OP-Bett zum Brutkasten, die Mutter öffnet die Klappe, streichelt über den nackten Körper ihres Sohnes und sagt: „Er ist so schön, er ist so wunderschön“, und weint vor Glück.

Dass ihr Kind eine Frühgeburt sein wird, erfährt Annika Henrich einen Monat vorher, am 29. Juli 2019, in der Uniklinik Essen. Von einer Frühgeburt sprechen Ärztinnen, wenn das Kind vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren wird. In Deutschland werden etwa 60.000 Babys jährlich zu früh geboren, das sind ungefähr 9 Prozent der Neugeborenen. Die Spätfolgen einer Frühgeburt können Probleme mit der Lunge, der Niere und dem Gehirn sein. Wie sich Frühchen entwickeln, hängt auch davon ab, wie viel zu früh sie geboren werden.

Essen: So fühlt es sich für ein Ehepaar an, ein Frühchen zu bekommen

Der Brutkasten im Essener Uniklinikum, in dem Linus lag.
Der Brutkasten im Essener Uniklinikum, in dem Linus lag. © privat | Henrich

Am Tag der Diagnose ist Henrich in der 25. Schwangerschaftswoche. Die 36-Jährige leidet an Plazentainsuffizienz: Der Mutterkuchen kann das Kind nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgen. „Die Ärztin wusste zwar, was das Problem war, aber dafür gibt es keine Heilung“, sagt Henrich. Ab jetzt heißt es, jeden Tag zittern, dass die Geburt noch so lange wie möglich hinaus gezögert wird.

„Als ich die Diagnose gehört habe, ist die Welt auf einmal stehen geblieben“, sagt Henrich, die wie ihr Mann Felix für die Stadt Essen arbeitet. „Am Morgen war ich noch eine stolze und glückliche Schwangere, abends habe ich die Überlebenswahrscheinlichkeiten meines Sohnes recherchiert.“

Jeden Tag fährt sie zur Untersuchung in die Uniklinik . Es zerreiße sie jedes Mal, bis jemand das erlösende „Alles ist gut“ während der Behandlung sagt. „Die Stille bis dahin ist psychischer Stress.“

Bereits in der 30. Schwangerschaftswoche kommt Linus zur Welt

An einem Nachmittag, in der 30. Schwangerschaftswoche, kommt ihr Sohn zur Welt, zehn Wochen zu früh. Die Werte des CTG am Morgen sind noch gut, der Messfühler ermittelt Herztöne und Kindesbewegungen. Beim Ultraschall habe Henrich selbst gesehen, dass etwas nicht stimmt. „Man entwickelt ja mit der Zeit ein Gespür dafür.“ Sie beginnt zu weinen.

Linus wiegt bei der Geburt 810 Gramm und ist 31 Zentimeter groß. Für die Henrichs beginnt mit dem Tag die schlimmste und schönste Zeit zugleich. „Ich hatte so Angst, dass er es nicht schafft.“ In den ersten Tagen hat Linus immer wieder Atemaussetzer, aus dem Monitor ertönt dann ein Alarm. Im Mutterleib würde er noch nicht atmen. Verfrüht auf der Welt müssen Gehirn und Lunge das nun noch lernen. „Ich bin bei jedem Aussetzer aufgeschreckt wie eine Gazelle“, sagt Henrich.

Jeden Tag kommen die Eltern auf die Intensivstation, um mit Linus zu „känguruhen“

Nach einer Woche verlassen die Eltern das Krankenhaus. „Es fühlte sich wie Verrat am eigenen Kind an.“ Sie kommen täglich auf die Intensivstation , mehrmals am Tag darf Linus den Brutkasten verlassen, um auf der nackten Brust der Eltern zu schmusen. „Känguruhen“ nennt man die Kuscheltherapie für Frühchen. „Das ist wichtig, damit man eine Beziehung aufbaut“, sagt Annika Henrich. „Und es tut einfach gut: Es fühlt sich nach Liebe an.“ Von Anfang an wechseln die Eltern die klitzekleinen Windeln selbst.

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Um ihn auf der Intensivstation zu besuchen, müssen sie klingeln. „Immer, wenn mir nicht gleich die Tür geöffnet wurde, brach in mir Panik aus.“ Das Warten löst ein Gedankenkarussell aus: Öffnet keiner, weil es einen Notfall gibt? Ist der Notfall Linus? Könnte er tot sein? Doch Linus hält durch.

Auf der Station stirbt ein Frühchen

Nach fünf Wochen im Brutkasten kommt Linus in ein Wärmebett. Er kann nun seine Körpertemperatur fast selbstständig halten. Die Sonde, die ihn ernährt, wird vom Mund in die Nase verlegt, so dass er lernen kann zu trinken. Die Atemmaske, die er bis dahin auf der Nase trug, braucht er nicht mehr. Die Eltern beginnen, ihm das Fläschchen zu geben. Und sie singen ihm immer wieder „Weißt du wie viel Sternlein stehen“ vor.

Als er 1000 Gramm wiegt, hängen die Pflegekräfte Luftballons auf. „Es ist nicht in Worte zu fassen, wie dankbar wir der Uniklinik für ihre Arbeit sind“, sagt Henrich. Dann kommt der Tag als ein Frühchen auf der Station stirbt. „Ich erinnere mich noch ganz genau an den Namen des Mädchens“, sagt sie. Die Pflegekräfte schreiben den Namen auf eine Tafel, daneben leuchtet die elektrische Kerze. „Ich stand da und weinte.“

Linus darf endlich nach Hause - und hält die Eltern auf Trapp

Damit Linus nach Hause zu seinen Eltern kann, darf er fünf Tage hintereinander keine Atemaussetzer haben. Das schafft er am 20. November 2019, also drei Monate nach seiner Geburt, da wiegt er 2865 Gramm. In der ersten Nacht zu Hause haben die Eltern keine Sekunde geschlafen, daran erinnern sie sich gut. Eine Nachsorgeschwester des Bunten Kreises des Uniklinikums hat die Familie noch einige Woche betreut. „Die regelmäßigen Besuche haben uns sehr geholfen und viele Sorgen genommen.“

Mittlerweile ist Linus 14 Monate alt, ist ein aufgewecktes Kerlchen, am liebsten spielt er mit einer grünen Schippe und Autos. „Seit er zu Hause ist, geht es nur bergauf“, sagt Henrich.

Im Vergleich zu seinen Freunden bei der Tagesmutter ist er zwar noch etwas kleiner, aber er erfreut sich bester Gesundheit. Im Winter 2019 konnte sich die kleine Familie ihren großen Traum erfüllen – zu dritt nach Dänemark reisen. Während des Interviews krabbelt Linus durchs Wohnzimmer, saugt an einem Schnuller und greift nach seinen Autos, um sie seiner Mutter zu bringen. „Ich platze vor Glück, wenn ich ihn jetzt so rumtoben sehe“, sagt Henrich.

*Name von der Redaktion geändert.