Essen. Die Memory Clinic Essen feiert nächstes Jahr ihr 30-Jähriges Bestehen. Als eine der ersten bot sie Hilfe für Demenzpatienten und ihre Angehörigen.
Ob ihr Gedächtnis nachlässt, können die Experten der Memory Clinic Essen ihren Patienten nach einer Untersuchung beantworten. Einen Test könne aber jeder bei der Quiz-Show „Wer wird Millionär“ am heimischen Fernseher machen, scherzt Sozialpädagoge Carsten Brandenberg: „Wer die 100-Euro-Frage nicht beantworten kann, bekommt bei uns bevorzugt einen Termin.“
Wenn das richtige Wort fehlt oder die Einkäufe doppelt sind
Tatsächlich freut sich das Clinic-Team, wenn Betroffene möglichst früh kommen – dann kann ihnen am wirksamsten geholfen werden. Darum stellen sie Angehörigen und Betroffenen nicht nur Quizfragen, sondern wollen wissen: „Fällt Ihnen das richtige Wort nicht ein?, „Vergessen Sie Verabredungen?“ oder „Kauft Ihr Partner doppelt ein?“, „Gibt er Hobbys auf?“ All das könnten Anzeichen für eine Vergesslichkeit sein, hinter der womöglich stecke.
Wenn jemand vereinsame, unter depressiven Verstimmungen leide oder andere psychosoziale Probleme habe, könnte es sein, dass dies auf eine beginnende Demenz hinweise, sagt der Geragoge Dr. Hartmut Fahnenstich. Um das abzuklären, bediene sich die Memory Clinic einer „sehr feinen Diagnostik“.
Das ganze Team schaut sich die Patienten an
Patienten werden ausführlich zu ihrer medizinischen Vorgeschichte befragt, körperlich und neuropsychologisch untersucht. Zum Clinic-Team gehören Neurologen, Psychiater, Pädagogen und Psychologen. „Jeder Patient wird von vier Menschen verschiedener Fachrichtung angesehen, die sich nachher zusammensetzen“, sagt Fahnenstich.
Memory Clinic ist Teil des Geriatrie-Zentrums Haus Berge
Die Memory Clinic Essen startete im Jahr 1991 zunächst als auf drei Jahre angelegtes Modell-Projekt, finanziert von Krupp- und Sparkassen-Stiftung. Sie orientierte sich an ihren Namenspaten in London und Basel: Anhand von medizinischen, psychologischen und psychosozialen Untersuchungen sollten Gedächtnisstörungen früh und eindeutig erkannt werden. Betroffenen und Angehörigen sollten Hilfsangebote aufgezeigt werden.
1994 wurde das Modellprojekt um zwei Jahre verlängert, bis dahin hatte die Memory Clinic Essen bereits 3500 ambulante Patienten aus ganz NRW. 1996 wurde die Memory Clinic zu einer Abteilung des Essener Elisabeth-Krankenhauses und 1999 unter diesem Dach zur ambulanten Abteilung des Geriatrie-Zentrums Haus Berge. Sie vermittelt Patienten in die Tagesklinik und hat so eine Pforten-Funktion für Haus Berge.
2019 wurde die Memory Clinic Teil der Katholischen Klinikum Essen GmbH.
Bis heute hatte die Memory Clinic allein 27.000 ambulante Patienten, die oft über Jahre unterstützt werden. Prominentester Patient war vermutlich der frühere Schalke-Manager Rudi Assauer, der 2019 gestorben ist.
Am 6. März 2021 feiert die Memory Clinic ihr 30-jähriges Bestehen. Schon im Vorfeld wird es verschiedene Veranstaltungen und Angebote geben.
Am Dienstag, 6. Oktober 2020, von 15 bis 16 Uhr, startet in der Memory Clinic, Germaniastraße 9 in Essen-Begeborbeck, ein Treffpunkt für Angehörige von Demenzerkrankten. Anmeldung: 0201 8976133
So wird geklärt, ob Gedächtnisstörungen durch eine Depression oder einen Schlaganfall ausgelöst wurden, ob sie im altersbedingten Rahmen liegten – oder behandlungsbedürftig sind. Die vier Kollegen besprechen auch, ob dem Betroffenen mit Therapien, medikamentös oder durch psychosoziale Beratung geholfen werden kann.
Oft helfe es schon, Hörgerät und Brille richtig anzupassen
„30 Prozent der Patienten können wir heilen oder den Prozess verlangsamen“, sagt Prof. Richard Dodel, der die Memory Clinic leitet. Oft helfe es schon, Hörgerät und Brille richtig anzupassen, den Blutdruck zu regulieren, Blutzucker- und Cholesterinwerte einzustellen. Am besten gewappnet sei, wer früh im Leben auf sein Gewicht achte, sich bewege, wenig Alkohol trinke und nicht rauche.
Auch Wissensdurst kann schützen: „Je gebildeter ein Mensch ist, desto geringer ist sein Risiko, an Alzheimer zu erkranken“, sagt Dodel, der auch einen Lehrstuhl für Geriatrie an der Uni Duisburg-Essen hat. Man könne sich das mit dem Bild von zwei Eimern verdeutlichen, der eine halb gefüllt, der andere voll: Wenn beide ein Loch haben, sei der halb-volle natürlich schneller leer.
„Bloße Routine ist Gift für das Gedächtnis“
Es reiche jedoch nicht, wenn man in jungen Jahren viel Wissen erwerbe und sich anschließend jahrzehntelang aus diesem Vorrat bediene, ergänzt Carsten Brandenberg: „Bloße Routine ist Gift für das Gedächtnis, da nutzen wir nur Trampelpfade im Kopf.“ Das Gehirn müsse in Bewegung bleiben; zur guten Vorsorge gehöre lebenslanges Lernen, Gedächtnistraining, möglichst mit anderen: Austausch verstärke den Lerneffekt.
Die Memory Clinic, die 2021 ihr 30-jähriges Bestehen feiern wird, ist an ihrem Standort in Bergeborbeck längst eingebettet ins Geriatrie-Zentrum Haus Berge mit Tagesklinik, Pflegeheim und Wohnungen für Alzheimer-Patienten. Sie bietet außerdem Betroffenen und Angehörigen zahlreiche Kurse und Treffpunkte.
„In Essen fallen Demenzpatienten nicht durchs Netz“
Sein Vorgänger Prof. Hans Georg Nehen habe „sehr weitsichtig“ geplant, sagt Dodel. Die Essener Memory Clinic sei eine der ersten bundesweit gewesen, heute gebe es fast 50. In Essen sei früh dafür gesorgt gewesen, „dass Demenzpatienten nicht durchs Netz fallen“. Gleichzeitig habe die Memory Clinic ein Bewusstsein für das Thema geschaffen: „Heute gibt es eine größere Bereitschaft, zu uns zu kommen“, sagt Hartmut Fahnenstich.
Besonders früh kämen Patienten mit der seltenen, frontotemporalen Demenz, denn vor allem bei ihren Angehörigen sei der Leidensdruck hoch, sagt Prof. Dodel. Während der klassische Alzheimer-Patient über 70 sei, treffe es sie zwischen 50 und 60 – oder früher. „Weil sich mit der Krankheit ihr Sozialverhalten ändert, ecken sie überall an.“ Wie jener General, der plötzlich bei offiziellen Anlässen Zoten erzählte, einer Fremden in den Ausschnitt griff und in seinem Stammgeschäft Zigarren stahl – ohne erkennen zu können, was an all dem problematisch sei.
Heilung gebe es in diesen Fällen nicht, aber Hilfe für die Familien, deren Leben zu kollabieren drohe.