Essen. . Die „Memory Clinic“ berät vergessliche und verwirrte alte Menschen und ihre Familien. Zum 20. Geburtstag gratulierte auch die erste Patientin (99). Experten raten, das eigene Gedächtnis so oft kontrollieren zu lassen wie seine Blutwerte.
Elisabeth Strempel war schon fast 80 und immer noch offen für Neues, und so zog sie gleich los, als sie von der neu eröffneten „Memory Clinic“ im Haus Berge in Bergeborbeck las. Sie war die erste Patientin dieser ambulanten Beratungsstelle des Elisabeth-Krankenhauses - eine greise Pionierin. Noch bemerkenswerter ist, dass sie dieser Tage auch zum 20. Geburtstag der Memory Clinic als Gratulantin vorbeischaute.
99 Jahre alt ist sie nun, sitzt im Rollstuhl, hört nicht mehr so gut, erinnert sich aber noch immer an die Zeit, „als das hier wie mein Zuhause für mich war“. Damals, mit Ende 70, hatte sie das Gefühl, vergesslich zu werden und so freute sie sich über das neue Beratungsangebot der „Memory Clinic“. Hier sitzt nicht ein Mediziner, der eine Checkliste abhakt, hier untersuchen Ärzte, Pädagogen, Psychologen und Neurologen die Patienten und unterhalten sich anschließend in einer „Diagnose-Konferenz“ darüber, was jedem aufgefallen ist. Erst dann wird eine Empfehlung für eine Therapie formuliert und an den Hausarzt weitergeleitet.
Mancher demente Patient wird anschließend medikamentös behandelt, andere bekommen den erfreulichsten Befund: „Alles in Ordnung.“ So war es auch bei Elisabeth Strempel, die der Memory Clinic trotzdem treu blieb: Auch in Presse, Funk und Fernsehen gab sie Auskunft über deren Arbeit; schaffte es gar in eine Talkshow, bei der auch US-Schauspieler Michael Douglas zu Gast war. Lampenfieber? „Nee, aufgeregt war ich nie.“
„Das Gedächtnis sollte man testen wie die Blutwerte“
Eine Vorreiterin sei sie gewesen, findet Dr. Hartmut Fahnenstich. „Wir wollen ja, dass alle Leute ihr Gedächtnis so routinemäßig testen lassen wie die Blutwerte.“ Doch in den Anfangszeiten der Memory Clinic seien meist Patienten mit einer mittleren bis schweren Demenz gekommen. „Da waren wir die letzte Hoffnung für Alzheimer-Patienten - dabei können wir ja niemanden per Handauflegen heilen.“ Heute gebe es viele Menschen wie Elisabeth Strempel, die sich früh untersuchen lassen. Bei manchen habe das damit zu tun, dass sie einen verwirrten Angehörigen pflegen und dabei anfangen, sich selbst auf Symptome hin zu beobachten, erklärt der Nervenarzt Johannes Haseke. „Da ist ein eigenständiges Krankheitsbild entstanden: die Demenz-Angst.“
Eine Angst, die man in der Memory Clinic Ernst nimmt – und die positive Effekte hat. Denn die Fachleute können den gesunden Ratsuchenden hilfreiche Hinweise für ihre Lebensführung geben: Wer sozial eingebunden sei, wer die Kontakte zu Familie und Freunden pflege, der sei besser gefeit gegen Demenz, sagt Klinikleiter Hans Georg Nehen. „Sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen kann Alzheimer verzögern.“ Darum mache man mit allen Patienten eine Sozial- und Bildungsanamnese, um zu sehen, wie viel Initiative sie mitbringen.
„Lernen kann der Demente nicht mehr, aber reaktivieren“
Elisabeth Strempel war sehr interessiert und brachte ein ideales Umfeld mit: Jahrzehntelang lebte sie bei ihrer Tochter, die fünf Kinder hat. „Sie hat uns sehr geholfen“, sagt Edith Chajewski. Seit vier Jahren lebe ihre Mutter im Ludgeri-Heim in Werden, sei aber weiter eingebettet in die Familie mit fünf Enkeln, 12 Urenkeln und einer Ururenkelin.
„Meine Mutter ist mein Vorbild. Sie liest Bücher und täglich die Zeitung“, sagt die 73-jährige Tochter. „Und sie weiß viel über die Enkel!“ Klinikleiter Nehen wundert das nicht: „Enkel sind ein emotionales Thema; und das Gedächtnis läuft halt über Gefühle.“ Das sage man auch den Angehörigen, die in der Memory Clinic beraten werden: Demente Menschen erreiche man kaum über den Verstand, doch sie könnten oft vertraute Kinderlieder mitsingen oder Sprichwörter ergänzen. Hier lasse sich anknüpfen, sagt Nehen: „Lernen kann der Demente nicht mehr, aber reaktivieren.“