Essen. Die Stadt Essen hat Behinderte im Rathaus über das Bundesteilhabe-Gesetz informiert. Das bringt ihnen mehr Autonomie, macht manchem aber Angst.
Die große Freiheit beginnt mit Papierkram: Seit Jahresanfang sollen Behinderte, die in Einrichtungen wohnen, ihr Leben nach den eigenen Wünschen gestalten können. Bislang bot das jeweilige Heim ein Komplett-Paket, das vom Landschaftsverband bezahlt wurde. Es umfasste neben Kost und Logis alle Leistungen von Telefon bis Teilhabe.
Ab sofort können Betroffene selbst entscheiden, welche Heimangebote sie wahrnehmen und was sie andernorts bestellen. Dafür müssen sie Anträge stellen und Verträge abschließen. Weil das gar nicht so einfach ist, lud das Amt für Soziales und Wohnen am Mittwoch (22.1.2020) die Bewohnerbeiräte zu einer Info-Veranstaltung ins Essener Rathaus.
Gut 1700 Betroffene müssen Grundsicherung beim Sozialamt beantragen
„Wir wollen so gut und so verständlich wie möglich über die Neuerungen informieren“, sagt Hartmut Peltz, der das Essener Amt für Soziales und Wohnen leitet. Diese Neuerungen stehen in der dritten Stufe des Bundesteilhabe-Gesetzes, das am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist und Behinderten mehr Autonomie verschaffen soll. Es regelt, dass die Landschaftsverbände nur noch die sogenannten Fach-Leistungen bezahlen, also etwa Assistenz und Eingliederungshilfen.
Davon getrennt sind die „existenzsichernden Leistungen“ wie Essen und Miete, die nun von den Städten und Kreisen getragen werden. Sprich: Betroffene, die nicht genügend eigenes Einkommen haben, müssen dafür Grundsicherung beim Sozialamt beantragen. Weil das vielerorts nur sehr schleppend anlief, fürchtete der Landschaftsverband Rheinland schon, im Januar könnten zahlreiche Betroffene ohne Geld dastehen.
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Tatsächlich hätten in manchen Städten zu Jahresbeginn erst 20 Prozent der Betroffenen ihren Antrag gestellt gehabt, sagt Hartmut Peltz. „Wir hatten eine Antragsquote von gut 85 Prozent.“ 1300 Anträge sind schon bewilligt. Auch in Essen habe man im Dezember noch einzelnen Betroffenen hinterhertelefoniert, doch schon im Frühjahr 2019 hatte Peltz Einrichtungen und Betreuer zu Info-Veranstaltungen gebeten. Außerdem richtete er im Sozialamt eine neue Gruppe mit acht Mitarbeitern plus Teamleiter ein, die sich ausschließlich um die neue Klientel kümmert.
Diese umfasst rund 1700 Behinderte, die in zwölf Essener Einrichtungen wie dem Franz-Sales-Haus oder der Heimstatt Engelbert leben. Mit diesen müssen sie nun einen Mietvertrag schließen, die Miete von maximal 518 Euro erhalten sie vom Sozialamt. Das zahlt ihnen außerdem 389 Euro Grundsicherung, mit denen sie Essen, Kleidung, Freizeit und Fahrtkosten bestreiten müssen. Wer mag kann nun also auf die Teilnahme am Heim-Essen verzichten und sich stattdessen den Pizzaservice kommen lassen.
Viele Behinderte haben nun erstmals im Leben ein eigenes Konto
Für die Betroffenen bedeutet das auch eine neue Verantwortung: Viele haben erstmals im Leben ein eigenes Konto und müssen lernen, mit dem Geld hauszuhalten. Außerdem müssen mit den Einrichtungen Verträge abschließen, in denen genau aufgelistet ist, welche Leistungen sie wahrnehmen und welche nicht. Selbst mancher ehrenamtliche Betreuer tue sich damit schwer, erzählt Peltz.
Auf der gutbesuchten Info-Veranstaltung am Mittwochmorgen zeigen sich bei aller Freude über die Intention des Gesetzes auch viele Sorgen. Da meldet sich eine Frau, die im Markus-Haus in Frohnhausen lebt und mit dem Träger ein Service-Paket vereinbart hat. Über die vereinbarte Summe habe sie auch gleich einen Dauerauftrag eingerichtet, im Vertrauen auf das Geld vom Amt. Doch das sei nicht auf dem Konto eingegangen: Der Dauerauftrag konnte nicht bedient werden, sie musste knapp zwei Euro Strafgebühren zahlen. „Für mich ist das viel Geld. Ich saß da heulend in der Bank.“ Offenbar gebe es zwischen der Stadt Essen und ihrem früheren Wohnort in Hessen ein Gerangel, wer die Grundsicherung für sie übernehme. „Bei mir löst dieses Gesetz Existenzängste aus.“
Stadt Essen lud Bewohnerbeiräte ins Rathaus
Anfang 2020 ist die dritte Stufe des Bundesteilhabe-Gesetzes in Kraft getreten. Sie soll Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, mehr Autonomie geben. Dieser Ansatz geht auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen zurück, die vor gut zehn Jahren in Kraft trat.
Für die Betroffenen bedeutet die neue Freiheit aber auch mehr Bürokratie. Das Amt für Soziales und Wohnen in Essen hat daher seit Mai 2019 bereits Info-Veranstaltungen mit Essener Einrichtungen sowie mit den Betreuern gemacht. An diesem Mittwoch (22.1.2020) waren die Bewohnerbeiräte im Ratssaal zu Gast. Sie vertreten die behinderten Bewohner in den zwölf Essener Einrichtungen (von Franz-Sales-Haus bis Heimstatt Engelbert, von Lebenshilfe bis Gesellschaft für Soziale Dienstleistungen).
Selbst wenn jemand vor Jahrzehnten in eine Essener Einrichtung gezogen sei, sei noch heute seine frühere Heimatgemeinde für die Grundsicherung zuständig. Das führe bisweilen zu Komplikationen, erklärt Hartmut Peltz. Der betroffenen Bewohnerin versprechen seine Mitarbeiter Hilfe, genau wie vielen anderen, die sich besorgt melden, weil sie keine Bescheide oder kein Geld bekommen hätten.
Die neue Freiheit ist nicht grenzenlos
Andere fragen bang, ob es nun kein Taschengeld mehr gebe und kein Bekleidungsgeld? Ja, sagen die Experten von der Stadt, diese Leistungen fallen weg. „Shampoo, Hose, Jacke – das muss ich dann alles selbst zahlen“, folgert ein Bewohner. Manchem dämmert da, dass die 389 Euro zwar selbstbestimmt ausgegeben werden können, aber die (materielle) Freiheit nicht grenzenlos ist. Hartmut Peltz versichert jedoch, dass am Ende niemand weniger bekommen solle als zuvor.