Essen. Ein Jahr nach dem Todesschuss auf Adel B. melden sich Essener Behörden zu Wort. Staatsanwaltschaft spricht von mehr als minutiösen Ermittlungen.
Das Projektil aus der Dienstwaffe des jungen Essener Polizisten durchschlägt eine von vier rechteckigen Glasscheiben der Haustür in der Altendorfer Drügeshofstraße und trifft Adel B. in die Brust. Fünfmal schreit der Deutsch-Algerier auf, sein allerletzter Laut ist fast nur noch ein Seufzer. Polizisten stürmen in den Flur, ein Messer fliegt auf den Gehweg. Schnitt.
Es sind nicht mehr als diese drei Sekunden aus einem Zeugenvideo, die eine erste polizeiliche Schilderung des für den 32-Jährigen tödlichen Polizeieinsatzes am 18. Juni des vergangenen Jahres komplett umdrehen: Nicht Adel B. stürzte mit dem 30 Zentimeter langen Fleischermesser in der Hand auf die Polizisten zu, sondern die Beamten stürmten in Richtung der Haustür.
Nun muss eine erste, schnelle Einschätzung der Lage nicht immer die richtige sein, wenn die versammelte Presse vor Ort so prompte wie passende Antworten fordert. Doch dass sich die Behörden in diesem Fall spät und wie es schien, erst unter der Last der Bilder korrigierten, schürt offenbar bis heute das Misstrauen nicht nur von Angehörigen, Freunden und Bekannten des Opfers. Dabei war es gar nicht das Video, das die Wende in der Wahrnehmung und Beurteilung des Falles brachte. Doch es sorgte immer für mehr Aufsehen als das eine entscheidende Detail, das zuvor am Tatort entdeckt wurde: Das Einschussloch einer einzigen abgefeuerten Kugel, das belegte: Adel B. befand sich hinter der Tür, als er getroffen wurde. Loszustürmen war da für ihn gar nicht drin.
Die Behörden wissen um die öffentliche Brisanz des Falles
Am Samstag werden sie auf den Straßen Altendorfs wieder „Gerechtigkeit für Adel B.“ fordern, nicht nur weil die erste Einschätzung des Ablaufs faktisch falsch war, sondern auch, weil aus manches Sicht viele Fragen als nicht oder nicht den Erwartungen gemäß beantwortet empfunden werden.
Die Behörden, sie wissen um die nach wie vor öffentliche Brisanz des Falles, die nun ausgerechnet kurz vor dem Jahrestag des Todes Adel B.s zusätzlich angeheizt wird von einer weltumspannenden Rassismus- und Polizeigewalt-Debatte, die vor Essen nicht halt macht. Am Dienstag suchten Polizei und Staatsanwaltschaft Essen im Fall Adel B. nicht ohne Grund erstmals die Öffentlichkeit. Um es vorwegzunehmen: Die Behörden bleiben - zuletzt bestätigt von der Generalstaatsanwaltschaft - dabei: der tödliche Schuss, er war Notwehr.
Aber: „Vielleicht haben wir das nicht genügend erkannt, was das für die Öffentlichkeit bedeutet hat“, sagt Oberstaatsanwältin Anette Milk mit Blick auf die Wirkung der anfänglich falschen Schilderung der Abläufe, die von der Essener Polizei nie korrigiert wurde. Weil die Behörde ja auch außen vor war, seitdem die Bochumer aus Neutralitätsgründen ermittelten, heißt die Begründung. „Und das führt mit dazu, dass Ermittlungen dauern können“, macht Essens Polizeichef Detlef Köbbel deutlich. „Wo das Kommunikationsproblem gesteckt hat, weiß ich nicht“, räumt Milk im Nachhinein ein.
„An den Beamten bleibt nichts, aber auch gar nichts an Vorwürfen hängen“
Dafür sollen die Ermittlungen, die zur Einstellung des Verfahren geführt haben, umso gründlicher abgelaufen sein: „Ich kann behaupten, dass nicht nur minutiös, sondern im Halbsekundenrhythmus aufgeklärt worden ist“, betonte Milk mit Blick auf die Auswertung des insgesamt 48 Sekunden langen Videos eines Nachbarns: „Ich bin der Überzeugung, an den Beamten bleibt nichts, aber auch gar nichts an Vorwürfen hängen.“
Das ist die strafrechtliche Sicht der Dinge, die vor allem die Umstände und die Verhältnismäßigkeit des tödlichen Schusses im Handeln der Polizei vor Ort würdigt, weniger aber die vielen anderen Fragen, die während und nach dem Einsatz aufgekommen sind: Ob Adel B. nicht mit anderen Mitteln, etwa mit Pfefferspray, hätte gestoppt werden, sich nicht ein Beamter zwischen ihn und die Haustür hätte stellen können, um zu verhindern, dass er Kindern im Haus etwas antut, wie er es auf der Straße angekündigt haben soll. Warum seine Freundin nicht vorgelassen wurde, die ihn vielleicht hätte zur Aufgabe bewegen können, während nach Angaben Köbbels allein der Zeitfaktor dafür entscheidend gewesen war, dass weder das SEK, noch ein Mediziner, ein Psychologe rechtzeitig vor Ort war, um noch rettenden Einfluss zu nehmen.
Die Polizei, sie wusste ziemlich genau, mit wem sie es zu tun hatte: Am 18. Juni provozierte Adel B., der an diesem frühen Morgen unter Alkohol- und Kokaineinfluss stand, nicht zu bremsen mit Pfefferspray und „weit jenseits der Fahrtüchtigkeit“, wie Milk es formuliert, den mittlerweile dritten Polizeieinsatz weniger Tage. Am 9. Juni hat er seine Lebensgefährtin mit einem Messer bedroht, sagt Köbbel: „Und zwar sehr massiv.“ Die Frau habe „die Bedrohung sehr ernst genommen“.
Adel B. hält sich an einer Bushaltestelle ein Messer an den Hals
Adel B. wird mit einem Rückkehrverbot für die Wohnung an der Drügeshofstraße belegt. Zwei Tage später hält er sich an einer Bushaltestelle ein Messer an den Hals und kündigt gegenüber Polizisten einen Suizid an und sagt: „Ich weiß, ich kann mit dem Messer auf Sie zulaufen, Sie müssen mich dann erschießen.“ Unter diesem Eindruck wird die Polizistin noch gestanden haben, die bei diesem Einsatz dabei war und am 18. Juni vor der Haustür kniete, durch deren Spalt Adel B. mit dem Messer gefuchtelt haben soll, und die so den Schuss ihres Kollegen auf die Extremitäten des „hoch aggressiven Mannes“ unmöglich machte, so die Ermittler. Zuvor hatte Adel B. eine wildfremde Frau auf der Altendorfer Straße massiv bedroht.
Essens Polizeichef ist überzeugt, Adel B. hatte es in der Hand: „Er hätte durch sein Verhalten die Situation entschärfen können.“ Der Deutsch-Algerier habe ein Problem gehabt, „die Polizei kann solche Probleme nicht lösen“. Sondern es sei vielmehr die Frage, „wer hätte im Vorfeld auf ihn einwirken können?“, nachdem er nach nur wenigen Stunden aus einer Klinik wieder entlassen worden war. „Die Polizei hat versucht, ihn wegen seiner Suizidabsichten stationär zu halten, das ist nicht gelungen.“
„Man will bei Gott nicht jemanden erschießen“
Der 29 Jahre alte Marco, der in der verhängnisvollen Nacht in seiner betroffenen Dienstgruppe den Funk führte, weiß aus eigenem Dabeisein, dass seine Kollegen bis zum Schluss daran geglaubt haben, Adel B. zur Aufgabe bewegen zu können, auch wenn er angekündigt haben soll, „dass er nicht lebend aus dem Einsatz rauskommen möchte“. Und dabei will „man bei Gott nicht jemanden erschießen“. Das, was passiert sei, um Menschen im Haus an der Drügeshofstraße und Beamte zu schützen, „ist einfach die Hölle für alle beteiligten Kollegen. Für den Schützen ist es noch schlimmer“.
Das weiß auch Astrid Jöxen als Polizeiseelsorgerin aus Gesprächen mit den Polizisten: „Wenn ich zur Waffe gegriffen habe, ist das Leben nicht mehr so, wie es mal war.“ Das allerdings gilt nach dem verhängnisvollen Einsatz in Altendorf für den Beamten und das Opfer gleichermaßen. Der Fall Adel B., er kennt am Ende nur Verlierer, keine Helden.