Essen. Viele Senioren leiden unter dem Corona-Hausarrest, werden sogar beschimpft, wenn sie Einkäufe machen. Das Diakoniewerk Essen geht auf sie zu.

Ilse Perlebach ist 90 Jahre alt und mag dem Klischee der Hochbetagten nicht entsprechen: Die Essenerin lebt allein, organisiert ihren Alltag, hat eine Kreativgruppe gegründet und bewegt sich in der Videokonferenz so souverän wie im Supermarkt.

Ja, richtig gelesen, Frau Perlebach geht allein einkaufen, obwohl Nachbarn angeboten haben, das für sie zu erledigen. „Ich gehe, wenn es nicht so voll ist, verhalte mich vorsichtig und erledige die Einkäufe schnell.“ Die 90-Jährige spricht aus, was viele alte Menschen derzeit empfinden: „Wir hören im Moment ständig, woran wir alles nicht teilnehmen sollen. Es ist vielleicht Zeit zu sagen: ,Wir sind noch da!’“

Der Lockdown schneide nicht nur jene Senioren vom Leben ab, die pflegebedürftig und wenig mobil sind, oft in Heimen versorgt werden, sagt Claudia Hartmann, die das Senioren- und Generationenreferat des Diakoniewerks leitet. Abgeschnitten seien nun auch jene, die in der eigenen Wohnung leben und ein aktives Sozialleben haben. Oder hatten, bis Corona kam. „Alte Menschen, übrigens auch Heimbewohner, brauchen neben Pflege und Versorgung auch soziale Teilhabe.“

Seminare und Herzens-Sprechstunde laufen jetzt am Telefon

„Alte Menschen, übrigens auch Heimbewohner, brauchen neben  Pflege und Versorgung auch soziale Teilhabe“, sagt Claudia Hartmann, die das Senioren- und Generationenreferat des Diakoniewerks Essen leitet.
„Alte Menschen, übrigens auch Heimbewohner, brauchen neben Pflege und Versorgung auch soziale Teilhabe“, sagt Claudia Hartmann, die das Senioren- und Generationenreferat des Diakoniewerks Essen leitet. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Darum organisiert das Seniorenreferat mit Ehrenamtlichen Seminare, Ausflüge, Reisen. Dinge, die seit Wochen wegfallen: Der Rundbrief des Referats geriet zum Absage-Vermeldungsblatt. Trotzdem meldeten sich viele der 450 Adressaten, sagten: „Danke, dass Ihr an uns denkt.“

Claudia Hartmann nahm das als Anstoß und ersann mit ihrem Team neue, coronataugliche Formate. Sie vermitteln Brieffreundschaften und haben an die Teilnehmer eines Seminars Postkarten geschickt, die diese gestalten sollen. „Daraus entsteht ein Buch.“ Andere Kurse verlegt sie in Telefonkonferenzen: Es gibt Literatur am Telefon, Kunst am Telefon oder die Herzens-Sprechstunde, in der sonst von Angesicht zu Angesicht diskutiert wird.

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Auch Anneliese Faseler (68), die mit einer weiteren Ehrenamtlichen eine Seniorengruppe in der evangelischen Gemeinde Freisenbruch-Horst-Eiberg leitet, musste Mitte März umdenken. Die 38 Frauen von Ende 60 bis 98 Jahren treffen sich sonst einmal wöchentlich: „Jetzt fragte ich mich, wie ich sie erreiche. Etliche haben nicht mal ein Handy.“

Für viele der Frauen, die alle in eigenen Wohnungen leben, bedeutete der Corona-Hausarrest angeordnete Einsamkeit. „Dass nicht mal ihre Kinder zu Besuch kommen durften, war sehr hart.“ Sie seien doch alt, sei die Gefahr einer Ansteckung wirklich das Schlimmste, das ihnen passieren könne?, fragen manche. Zu Ostern hat Anneliese Faseler alle 38 Adressen abgefahren, geklingelt und Geschenktüten überreicht: Wo schon die Berührung fehle, gab es wenigstens Stimme und Blickkontakt.

Senioren werden beschimpft, was sie draußen zu suchen hätten

Ansonsten habe sie das wöchentliche Treffen durch einen wöchentlichen Rundbrief ersetzt, in dem sich Infos der Stadt neben Mandalas und Rechenaufgaben finden. „Viele danken uns, dass sie mal einen Brief bekommen, der keine Rechnung ist.“ Manche nehmen die Post mit, wenn sie zum Friedhof gehen, um das Grab des Mannes zu besuchen: Es tüftelten dort schon mal zwei Frauen von Bank zu Bank an einem ihrer Rätsel.

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Die Lösungen verschickt sie im nächsten Rundbrief, und für die Woche dazwischen hat sie die Frauen in Kontakt gebracht: Hat an jede die Telefonliste der Gruppe geschickt und den Auftrag, täglich eine der anderen anzurufen. So müssen sie nicht alles mit sich allein ausmachen; auch nicht die hässlichen Erlebnisse, wenn sie im Supermarkt teils derb beschimpft werden, was sie draußen zu suchen hätten.

Seniorenreferat fördert selbst organisierte Projekte

Das Senioren- und Generationenreferat des Diakoniewerks Essen unterstützt die gemeindliche Seniorenarbeit und organisiert Freizeit-, Kultur- und Bildungsaktivitäten sowie Seniorenreisen und Tagesausflüge. Neben bewährten Angeboten geht es auch darum, selbst organisierte Projekte (zum Beispiel Theater- und Netzwerkgruppen) zu fördern.

Das Senioren- und Generationenreferat sitzt im Haus der Evangelischen Kirche, III. Hagen 39, in der Essener Innenstadt. Weitere Infos unter: 0201/22 05 147

Dabei gingen viele ohnehin kaum vor die Tür: Trauten sich nicht zum Arzt, wollten nicht alleine spazieren. Ein gefährlicher Bewegungsmangel, findet Faseler: „In letzter Zeit sind vier Frauen aus dem Kreis gestürzt.“

„Irgendwann sind mal alle Schränke aufgeräumt und alle Keller entrümpelt“

Risikogruppe – das Wort kann man auch anders auslegen. Die 90-jährige Ilse Perlebach ärgert sich, wenn es etwa heißt, Senioren sollten lieber dem Gottesdienst fernbleiben. Erstens seien das die treusten Kirchgänger, zweitens: „Man müsste uns schon irgendeinen Ausgleich bieten, wenn man uns so viel verbietet. Irgendwann sind alle Schränke aufgeräumt und alle Keller entrümpelt.“

Sie selbst ist durchaus bereit, auch digitale Angebote zu nutzen: Ihr Computerclub trifft sich neuerdings Woche für Woche in einer Videoschalte. Ihre Altersgenossen scheuten leider oft vor Tablet und PC zurück: „Dabei zeigt sich gerade, dass man die Älteren viel mehr mit Computern beschäftigen sollte.“