Nach acht Wochen Zwangspause öffnet die Essener Gastronomie wieder ihre Pforten. Der Neustart auf der Gastro-Meile Rü verlief noch verhalten.
Essen. Montagmittag um kurz nach zwölf. Die beiden Lehramtsstudenten Mark Dürrbeck und Philipp Bolz wischen sich den Kölsch-Schaum von der Oberlippe und strahlen: „Endlich.“ Endlich hat das „Wirtshaus Rü“, eine ihrer Lieblingskneipen in Essen-Rüttenscheid, nach wochenlangem Corona-Lockdown wieder geöffnet. „Das ist unser erster Kneipenbesuch seit acht Wochen“, sagen sie.
Wirtshaus-Inhaberin Ilona Hiegemann wirkt freudig aufgeregt. Für den lang ersehnten Neustart hat sich die leidenschaftliche Wirtin einiges einfallen lassen. Das rot-weiße Flatterband an der Theke und ihre Gesichtsmaske fallen ebenso auf wie die kleine Leine mit grünen und grauen Wäscheklammern, die sie jedem einzelnen Gast in die Hand drückt. „Wenn alle 21 von der Leine sind, ist der Laden voll“, sagt die Wirtin. In normalen Zeiten bewirtet sie bis zu 70 Gäste in dem gemütlichen Lokal, jetzt gerade einmal ein Drittel.
Im Wirtshaus Rü sind Teile der Tische mit Kreuzen aus Klebeband markiert
Und: Obwohl deutlich weniger Gäste kommen, habe sie das Personal sogar aufstocken müssen. „Allein wegen der vielen Hygienevorschriften brauche ich eine Kellnerin extra.“ Teile der Tische sind mit roten Kreuzen aus Klebeband markiert und damit No-Go-Areas. Wer das Wirtshaus betritt, muss Mundschutz tragen. Am Tisch darf der Gast es wieder ablegen, beim Gang zur Toilette muss er wieder ins Gesicht.
Die Rü, Essens Gastro-Meile, blüht im Zeichen der Corona-Lockerung spürbar auf. Schade nur, dass ausgerechnet jetzt dieser kalte Wind so scharf durch die Straße fegt. Schräg gegenüber im Café Extrablatt empfängt Kellnerin Kathi Großnickel nach mehreren Wochen Kurzarbeit jeden einzelnen Gast persönlich. Der Boden ist mit gelben Streifen markiert, dann folgt ein Holzklotz mit Corona-Warnhinweisen. In der Hand hält sie eine Flasche mit Desinfektionsmittel, das sie dem Gast reichlich in die Hände sprüht. Seit 8 Uhr läuft der Betrieb. Normalerweise herrscht im Extrablatt ein ständiges Kommen und Gehen, besonders mittags, wenn die Büromitarbeiter in die Pause gehen. Doch jetzt ist es auffallend ruhig. „Die Leute sind eben vorsichtig“, sagt die Kellnerin.
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Jeder Gast, der von ihr platziert wird, muss zuvor die vorgeschriebene „Kontaktdatenerhebung“ auf einem kleinen Formular akkurat erledigen. Abgefragt werden Name, Vorname, Adresse, Telefonnummer, Unterschrift, Aufenthaltszeit. Dann die Unterschrift. Fertig.
Stammgäste im Extrablatt sagen: „Die sozialen Kontakte haben gefehlt“
Heinz Staub (80), ein Ur-Rüttenscheider, zählt zu den Stammgästen im Extrablatt - jeden Morgen sei er hier, abends gehe er meistens in den „Brenner“ oder in die „Eule“. „Die sozialen Kontakte haben mir in den letzten Wochen gefehlt.“ Staub raucht einen Zigarillo, in gebotenem Abstand trinken seine Freunde Rainer Schäfer und Wolfgang Wieseler ihren Kaffee.
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Das „Zucca“ ein Stück die Rü runter hat seit neun Uhr geöffnet. „Wir müssen abwarten, wie sich das alles entwickelt“, sagt Kellner Dennis Lauenroth, der seinen Schädel kurzgeschoren hat und ebenfalls Mundschutz trägt. „Gastronomie lebt von Mimik und Gestik“, wirft er ein, „das fehlt jetzt alles.“ „Mein Lächeln sieht man nicht mehr“, fügt seine Kollegin Germaine Kowoll hinzu. Sie hat sich mit einer Flasche Desinfektionsspray und einer Rolle Küchenpapier bewaffnet und poliert den Tisch, der gerade frei geworden ist. Die Hocker an der Bar fehlen, auf der Theke stehen zwei Dutzend Gläser mit Teelichtern. Normalerweise schenkt Lauenroth vier Biersorten vom Fass aus, jetzt nur das Carlsberg. Die Kapazität an Tischen sei halbiert. Seinen Gästen gibt er gute Noten. Nur einen habe er ermahnen müssen, den Mundschutz zu benutzen.
Der Sternekoch spricht von einem Neustart mit gemischten Gefühlen
Was auffällt: Etliche Lokale bleiben am Montag noch verschlossen. Das Paul’s und nebenan das Tablo auf der Huyssenallee legen erst am Dienstag los, andere noch später oder gar nicht. Nelson Müller gehört zu den ersten, er hat um Punkt zwölf geöffnet. „Es ist ein Neustart mit gemischten Gefühlen“, sagt der Sternekoch. Einerseits freue er sich mit dem Team, dass es wieder losgehe, andererseits blieben die Sorgen: Haben die Gäste Vertrauen in die Gastronomie oder bleiben sie ängstlich? Kann man bei so vielen Einschränkungen überhaupt rentabel arbeiten?
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Draußen auf der Zucca-Terrasse genießen die beiden Freundinnen Kristina Knezovic und Jelena Jelic den ersten Latte Macchiato seit zwei Monaten. „Endlich“, sagen auch sie, „das haben wir wirklich vermisst.“
Ilona Hiegemann im Wirtshaus zapft ein frisches Stauder und sagt, sie wolle die ersten beiden Wochen abwarten und dann sehen, wie es weiter gehe. An den beiden Studenten aus Köln dürfte der zaghafte Neustart nicht scheitern. „Wir konnten acht Wochen lang nicht ausgehen und verreisen, wir haben jetzt mehr Geld“, lachen sie.