Essen. Constanze (9) ist wegen eines Gendefekts in Hamburg in Behandlung. Weil Bahnfahren schwierig ist, wird sie von einem Arzt ehrenamtlich geflogen.
Constanze ist neun Jahre alt. Sie ist ein Mädchen, das gerne singt und tanzt, mit ihren Eltern ins Theater geht und viele Gedichte aufsagen kann. Was man auf den ersten Blick nicht sieht: Constanze leidet an der genetischen Krankheit CLN2, ein Typ der im Volksmund auch als „Kinderdemenz“ bezeichneten, Krankheit NCL. Ihr Körper ist nicht in der Lage, ein bestimmtes Enzym zu produzieren, das Abfallstoffe aus dem Gehirn filtert.
Kinderdemenz ist unheilbar. Doch es gibt einen Lichtblick für die Familie Corban: Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf bietet seit wenigen Jahren eine Behandlung für CLN2-Patienten an. Es ist die erste weltweit. Doch die alle zwei Wochen nötigen Bahnfahrten nach Hamburg sind eine große Belastung für die Familie. Hier kommt der Essener Chirurg Michael Offermann ins Spiel.
Essener Arzt hat eine Berufspilotenlizenz und engagiert sich ehrenamtlich
Offermann arbeitet in der Rüttenscheider Praxisklinik für Gefäßkrankheiten - und hat seit Jahrzehnten eine Berufspilotenlizenz. Er ist Mitglied des karitativen Pilotennetzwerks „Flying Hope“. Die Piloten von Flying Hope fliegen bundesweit unentgeltlich kranke Kinder zur Diagnostik und Therapie in Klinken, die weit von ihrem Wohnort entfernt sind.
„Fast alle diese Kinder haben eine Schädigung des zentralen Nervensystems und sind schwerstkrank“, erklärt Offermann. Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln seien für die betroffenen Familien schwierig, wenn nicht unmöglich. So geht es auch den Corbans.
Seit dem sechsten Lebensjahr Rückschritte gemacht
Da Bahnfahrten mit Constanze zunehmend schwieriger werden und in der Corona-Zeit öffentliche Verkehrsmittel ohnehin ein großes Risiko darstellen, wird die Familie nun von Offermann nach Hamburg geflogen. Alle 14 Tage wird Constanze dort das fehlende Enzym synthetisch ins Gehirn injiziert. So kann die Neunjährige zwar nicht geheilt werden, doch die Ärzte hoffen, den Krankheitsverlauf zumindest stark zu verlangsamen.
Seit ihrem sechsten Lebensjahr hatte das Mädchen Entwicklungsrückschritte gemacht. So verlernte sie zum Beispiel die Fähigkeiten im Rechnen und Schreiben, die sie sich in der Schule angeeignet hatte. Dazu kamen motorische Probleme – es fiel ihr plötzlich schwer, Treppen hinunterzugehen – und sprachliche Probleme wie Wortfindungsstörungen. Für die Familie begann eine Odyssee von Arzt zu Arzt.
Kinderdemenz ist extrem selten: Bundesweit nur 700 Kinder betroffen
Das Problem: Die Krankheit NCL ist extrem selten und wurde deshalb bei Constanze zunächst anderthalb Jahre lang nicht diagnostiziert. Nur circa 700 Kinder in Deutschland leiden an dem Gendefekt. Etwa im Alter von acht Jahren beginnt bei NCL-Patienten im Schnitt ein geistiger Abbau. Die Kinder verlernen bereits erlernte Fähigkeiten, es kommt zu Persönlichkeitsveränderungen und Bewegungsverlust, bis sie schließlich auf den Rollstuhl angewiesen sind.
Mit Fortschreiten der Krankheit verlieren Patienten die Kontrolle über ihre Körperfunktionen, werden zu Pflegefällen und müssen künstlich beatmet werden. Im Alter von 20 bis 30 sterben sie meist. Obwohl nicht klar ist, ob und in welchem Maße die Behandlung in Hamburg Constanze helfen wird, haben die Corbans dennoch Hoffnung.
"Uns hilft aber der Gedanke daran, dass Constanze viele Dinge noch kann"
„Wir leben im Hier und Jetzt“, sagt Susanne Corban. Ihrer Tochter wollen die beiden Lehrer im Alltag so viele Freiheiten wie nur möglich geben. Manchmal ist das schwierig. Wenn Constanze zum Beispiel merkt, dass sie nicht mehr Radfahren oder schwimmen kann – alles Dinge, die sie schon einmal beherrscht hat –, dann macht sie das oft wütend.
„Uns hilft aber der Gedanke daran, dass Constanze viele Dinge noch kann, die Kinder bei einem typischen Krankheitsverlauf oft nicht mehr können“, sagt Thorsten Corban. So erinnere sich die Neunjährige noch an Choreographien aus dem Tanzkurs, den sie früher besucht hat, und kann sogar zum Kommunionsunterricht gehen.
Familie will Bewusstsein für die seltene Krankheit schaffen
Die Corbans wollen kein Mitleid für ihre Situation. Sie wollen ein Bewusstsein für die seltene Erkrankung ihrer Tochter schaffen – damit anderen Familien der Gang zu zig verschiedenen Ärzten erspart bleibt, damit schneller eine Diagnose gestellt werden kann. Denn je früher Kinderdemenz diagnostiziert wird, desto höher sind die Chancen, den Gesundheitszustand des betroffenen Kindes durch Enzymtherapie möglichst lange auf einem bestmöglichen Niveau zu halten.
Pilotennetzwerk "Flying Hope" fliegt kranke Kinder umsonst in Klinken
Der gemeinnützige Verein Flying Hope vermittelt kostenlose Flüge für Kinder, die aufgrund ihres körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes auf die Hilfe anderer angewiesen sind und deren Familien nicht die notwendigen finanziellen Mittel haben. Die Piloten fliegen die kranken Kinder und ihre Familien beispielsweise zu medizinischen Behandlungen oder Reha-Aufenthalten, die weit von ihrem Wohnort entfernt sind.
Außerdem bietet der Verein Rundflüge für kranke Kinder (auch gemeinsam mit einem Geschwisterkind) und „Motivationsflüge“ für sozial betreute Kinder an. Notfallflüge gibt es aber nicht. Flying Hope ist telefonisch unter 0211 174 547 94 oder per Mail an info@flyinghope.de erreichbar. Wer etwas spenden möchte, findet ein entsprechendes Formular unter www.flyinghope.de/spendenformular.