6000 Kilometer ins ferne Sibirien ist der Essener Arzt Michael Offermann selbst mit einer kleinen Maschine geflogen, um einem Jungen zu helfen.
Essen. Kirill ist 17, wirkt aber eher wie ein Junge im Grundschulalter. Schmale Schultern, dürre Beinchen, fahrige Blicke aus dunklen Augen. „Geistig bewegt er sich auf dem Stand eines Sechsjährigen“, sagt der Essener Mediziner Dr. Michael Offermann, während er Fotos von dem Patienten zeigt. Gerade hat er Kirill in Sibirien besucht. Dort lebt der Jugendliche – und dort lebt er nicht gut. Kirill ist schwerstbehindert und ständig auf Hilfe angewiesen. Viel Zeit verbringt er im Rollstuhl. Er kann sich kaum verständigen und man weiß nicht genau, wie viel er von seiner Umwelt mitbekommt. Sein schwacher Körper kann wenig leisten.
Vor 17 Jahren ist Kirill als gesundes Baby auf die Welt gekommen. Ausgerechnet im Krankenhaus ist dann ein folgenschweres Unglück passiert. „Jemand vom Personal hat das Baby fallen lassen. Das Kind hat schwere Hirnblutungen davongetragen, aber niemand fühlte sich verantwortlich“, sagt Offermann.
Enormer bürokratische Aufwand deutsche Hilfstruppe in Russland
Der Essener ist Facharzt für Chirurgie und Phlebologe, ein Spezialist für Venenleiden. Er arbeitet in der Rüttenscheider Praxisklinik für Gefäßkrankheiten und engagiert sich seit Jahren für schwerkranke Kinder, meistens über die Organisation „Flying Hope“, die junge, oft sterbenskranke Patienten deutschlandweit kostenlos fliegt – beispielsweise zu Spezialisten oder in ein Hospiz. Kirill aber hat der Arzt mit einer kleinen, privaten Hilfstruppe in Sibirien besucht.
Möglich wurde das, weil Michael Offermann selbst fliegt. Der 66-Jährige hat seit Jahrzehnten eine Berufspilotenlizenz und konnte nur deshalb den Jungen in einer abgelegenen Region in 6000 Kilometer Entfernung überhaupt erreichen.
Als die Delegation aus dem Westen am 9. Mai in die einmotorige Turboprop-Maschine gestiegen ist, um vom Flughafen Essen/Mülheim aus in das Abenteuer Sibirien zu starten, da war das auch ein Flug ins Ungewisse. „Der bürokratische Aufwand ist enorm. Es fängt damit an, dass es in Russland nur wenige internationale Flughäfen gibt, die man mit einer Privatmaschine anfliegen kann“, sagt Offermann.
Der kranke Junge hat nun nur noch einen epileptischen Anfall pro Tag
Den Jungen, den sie mit Medikamenten versorgt und untersucht haben, kannten sie bis dahin nur von Fotos – und von Danksagungen seiner Mutter. „Wir hatten schon einige Jahre lang mit Unterstützung der Rüttenscheider Apotheke Medikamente zu ihm geschickt. Kirills Mutter ist alleinerziehend und kann sich die Medizin nicht leisten“, erzählt der Essener Arzt. Mit deutscher Hilfe sei Kirills Epilepsie gut eingestellt worden. Gut heißt in diesem Fall: Der Junge hat nur noch rund einen Anfall täglich und es gibt Nächte, in denen er durchschläft.
„Fliegen in Russland ist wie Fliegen in einer anderen Welt“, sagt Offermann. Ein Beispiel: „Betankt werden die Maschinen an einigen Flugplätzen nur dann, wenn man vorab Geld auf das Schweizer Konto eines russischen Unternehmers überwiesen hat.“ Hinzu komme, dass, je weiter es in das Landesinnere geht, umso weniger Englisch in den unteren Lufträumen gesprochen werde. Doch zum fünfköpfigen Hilfsteam aus Deutschland gehörte auch ein befreundeter Russe, der in Dinslaken lebt. „Ohne Ivan wäre es nicht gegangen. Er hat für uns pausenlos übersetzt und bei den Zwischenstopps von der Immigration bis zum Betanken alles organisiert.“
In dieser Region Sibiriens können es bis zu 40 Grad minus werden
Drei Tage war die kleine Maschine unterwegs, dann setzte sie sicher auf der Landebahn von Tomsk auf, einer Stadt im Westen Sibiriens, in der es im Winter auch schon mal 40 Grad minus werden können. Hier war der Treffpunkt mit Kirill. „Der Junge lebt rund 400 Kilometer von Tomsk entfernt in einer Kleinstadt“, sagt der Essener Arzt. Und dieser Umstand macht das Leben für einen pflegebedürftigen Menschen und seine Mutter nicht einfacher. „Die Infrastruktur ist schlecht. Die Versorgungssituation auch.“
Das Hilfsteam aus dem Westen will Kirill weiter unterstützen. „Wir überlegen, wie wir ihm die Behandlung in einer Uniklinik ermöglichen könnten“, sagt Offermann. Kirill benötige dringend Orthesen zur Unterstützung seiner Gelenke und vielleicht auch eine Sehnenverlängerung, damit seine Hand so beweglich werde, dass er mit einem Rollator klarkommen kann. Sibirien und Rüttenscheid werden weiter in Kontakt bleiben.