Essen. Die Umwandlung der Rüttenscheider Straße zur Fahrradstraße ist heiß umstritten. Rolf Krane (IGR) und Jörg Brinkmann (ADFC) kreuzen die Klingen.
Die geplante Umwandlung der „Rü“ in eine Fahrradstraße und die damit verbundene Einschränkung des Autoverkehrs wird heiß diskutiert – und zwar nicht nur in Rüttenscheid, denn auch viele andere Essener und auch manche Auswärtige nutzen die Einkaufs- und Ausgehstraße häufig und gern. Zwei Interessenvertretern geben wir im Folgenden die Gelegenheit, ihre Standpunkte ausführlich darzulegen: Rolf Krane ist Vorsitzender der Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR), einem Verein, dem Geschäftsinhaber, Gastronomen, aber auch „normale“ Bürger angehören. Ihm geht die Planung der Stadt zu weit. Jörg Brinkmann, Sprecher des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs in Essen, hält sie hingegen nicht für weitgehend genug und sieht darin allenfalls einen ersten Schritt.
ROLF KRANE, Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR):
Rüttenscheid ist ein attraktiver Stadtteil, was auch die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt oder auch die Besucherzahlen belegen, und das liegt wesentlich an den vielfältigen Angeboten vor allem entlang der „Rü“. Die Einkaufs- und Ausgehmeile ist weit und breit der letzte florierende Standort für individuellen Einzelhandel, Gastronomie, aber auch sehr viele andere Dienstleister z.B. im Gesundheitsbereich.
Die Nachfrage ist hoch, Leerstände gibt es nur die normalen bei Betreiberwechsel, und die Qualität der Angebote steigt ständig. Die „Rü“ ist beliebt, weil sie so belebt und quirlig ist, und gerade die Straßencafés, in denen man das urbane Treiben beobachten kann, sind besonders gut besucht.
Trotzdem findet man auch Ruhe, z.B. im Christinenpark. Es ist ein organisch gewachsenes Gefüge, in dem sich alle arrangiert haben und um das uns viele beneiden, sind doch fast alle Einzelhandelsstandorte in der Krise. Dort hätte man gern mehr Verkehr.
Zur Vielfalt des Stadtteils gehört auch der Radverkehr
Zur Vielfalt des Stadtteils gehört natürlich auch der Radverkehr, dessen Förderung alle befürworten. Von der Grugatrasse über Fahrrad-Abstellanlagen bis hin zu Fahrradstraßen und der Freigabe von Einbahnstraßen in den Nebenstraßen. Ich selbst bin Radfahrer und habe kein Problem dabei. Mancher fühlt sich unsicher oder stellt es so dar, aber auffällige Statistiken gibt es nicht.
Da es viele Nutzer gibt, muss man sich natürlich arrangieren, und in Stoßzeiten geht es schon mal langsamer voran. Hier gilt es immer zu optimieren. Ob allerdings eine belebte Einkaufsstraße zur Fahrradhauptachse umfunktioniert werden sollte, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Es ist das gute Recht der Fahrradverbände, ihre Interessen zu vertreten, aber es gibt auch noch viele andere berechtigte Interessen. Neben Anwohnern, Kunden und Firmen, die sich offenkundig mehrheitlich hier wohlfühlen, ist ein solcher Standort natürlich auch für die Stadt insgesamt von Bedeutung.
Schon die Eignung der Rü als Fahrrad-Hauptachse ist zu bezweifeln
Schon die Eignung der „Rü“ als Fahrrad-Hauptachse ist zu bezweifeln, denn unabhängig von den Autos sind große Kreuzungen, Zebrastreifen, Ampeln, Ladeverkehre, Bushaltestellen, überall kreuzende Fußgänger u.v.a.m. Gründe, warum man hier grundsätzlich nicht schnell durchfahren kann.
Es wurden auch Alternativrouten vorgeschlagen, die z.B. zur Verbindung der großen Ost-West-Trassen geeigneter erscheinen. Aber auch die Auswirkungen auf die bisherigen Nutzer sind zu beachten. Das Angebot lebt von auswärtigen Kunden und Gästen. Gute Erreichbarkeit ist dabei unverzichtbar – nicht nur, aber auch mit dem Auto.
Man mag es sich anders wünschen und findet auch irgendwo unter ganz anderen Bedingungen Fälle, wo Einzelhandel auch ohne Autos existiert, aber die sind dann nicht von vier großen Einkaufszentren umgeben oder sind Hauptstädte mit breiten Straßen, die andere Möglichkeiten bieten. Es gibt auch viele Fälle, wo Verkehrsexperimente schiefgegangen sind und das auch in Essen.
Der Erfolg Rüttenscheids ist real, die Heilsversprechen sind rein hypothetisch und interessegeleitet
Der Erfolg Rüttenscheids ist real, die Heilsversprechen derer, die selbst keine Einzelhändler sind und die Konsequenzen auch nicht tragen müssen, sind rein hypothetisch und interessengeleitet. Umfragen zeigen, dass der Umsatzanteil bei den Radfahrern gering ist und bei hochwertigen Geschäften nahe Null liegt.
Das interessiert nicht jeden, aber Billigstandorte verändern auch das Sozialgefüge. Gesucht ist eine einvernehmliche und verträgliche Anpassung an die Situation, und darüber diskutiert man im Rahmen der Fahrradachse B, die leider der Umwelthilfe zugesagt wurde, durchaus gar nicht so kontrovers.
Sieben Maßnahmen, um den Radfahrern auf der „Rü“ mehr Geltung und Sicherheit zu verschaffen, sind im Gespräch, von einer radfeindlichen Haltung oder Verweigerung kann also keine Rede sein. Nur die sogenannten Modalsperren sind mit uns nicht zu machen. Dabei würden auf der „Rü“ von Süden kommend alle Autos in die Martin- und Franziska-, von Norden in die Zweigert- und Klarastraße geleitet.
Das soll zwar Durchgangsverkehr fernhalten, lenkt aber den gesamten Verkehr in die Wohnstraßen des Mädchenviertels und die Alfredstraße, die eigentlich entlastet werden soll und für die Abbiege-Verkehre nicht ausgelegt ist. Das geht weit über die Fahrradstraße hinaus und ist extrem schädlich für die Anwohner, den Verkehr und die Firmen. Umwegfahrten und kreisende Verkehre werden erzeugt.
Zugänglichkeit der Geschäfte wird empfindlich verschlechtert - wollen wir Rüttenscheid opfern?
Die Zugänglichkeit der Geschäfte wird empfindlich verschlechtert. Man leitet die Kunden geradezu über die B 224 in die Einkaufszentren. Gerade erst hat man die Parkgebühren spürbar erhöht, Ladesäulen auf Kundenparkplätze gesetzt, und Carsharing-Plätze sollen folgen. Steigende Mieten, Onlinehandel, etc. sind schon schlimm genug für den vielgelobten Einzelhandel, dem man eigentlich stattdessen helfen müsste! So kriegt man auch Rüttenscheid kaputt.
Dabei wird der bisher mit rund zehn Prozent Anteil gemessene Durchgangsverkehr ohnehin durch die Fahrradstraße endgültig abgeschreckt werden, denn hier geben die Radfahrer die Geschwindigkeit vor. Und das alles nur für die Zeiten fahrradfreundlichen Wetters, wie die Fahrradverbände einräumen.
Der Handel muss aber das ganze Jahr über laufen. Oder wollen wir Rüttenscheid opfern?
JÖRG BRINKMANN, Allgemeiner Deutscher Fahrradclub (ADFC):
Seit nunmehr 25 Jahren darf sich die Stadt Essen offiziell als „fahrradfreundlich“ bezeichnen. Grundlage dafür war ein damals vom Rat der Stadt Essen verabschiedetes gesamtstädtisches Radroutenkonzept. Es ist seither zwar eine Menge geschehen, häufig genug wurde jedoch vor allem dann etwas für Radfahrer getan, wenn dies mit möglichst wenig Beschränkungen für den Autoverkehr verbunden war.
Vor einigen Jahren hat man nun erstmals konkrete Zielvorstellungen bei den Anteilen der verschiedenen Verkehrsträger am Gesamtverkehr festgelegt. Dabei soll der Radverkehr von heute sieben Prozent auf 25 Prozent im Jahr 2035 gesteigert werden.
Allen muss klar gewesen sein, dass Fahrradförderung Einschränkung für Autos bedeutet
Bei diesem Ratsbeschluss muss allen Beteiligten klar gewesen sein, dass eine verstärkte Förderung des Radverkehrs angesichts der seit Jahrzehnten festgeschriebenen Aufteilung der Straßenflächen zwangsläufig Einschränkungen für den Autoverkehr mit sich bringt.
Dennoch wurde nie hinterfragt, warum ausgerechnet in einem dicht besiedelten Stadtteil wie Rüttenscheid dem fahrenden wie dem stehenden Autoverkehr bislang gut 90 Prozent des Straßenraums zugebilligt worden ist. Radwege sind, wenn es sie denn überhaupt gibt, fast ausschließlich auf Kosten der Gehwegbreiten angelegt worden. Die Rüttenscheider Straße ist ein Paradebeispiel dafür. Und nun soll mit einer Umwidmung der „Rü“ in eine Fahrradstraße endlich einmal dieses ungeschriebene Gesetz durchbrochen werden.
Der Autoverkehr wird auf der Rüttenscheider Straße nicht einmal ausgesperrt
Dabei wird der Autoverkehr nicht einmal ausgesperrt. Jedes Geschäft, jede Kneipe wird weiter aus allen Fahrtrichtungen auf vier Rädern erreichbar sein. Ob die geplanten Abbiege-Zwänge an den Kreuzungen wirklich kontrollierbar und damit durchsetzbar sind, darf angezweifelt werden. Eine wirkliche Verringerung des Autoverkehrs ist dadurch kaum zu erwarten.
Die Stadt erfüllt mit ihrer Planung für die „Rü“ nicht die andernorts praktizierten Standards für Fahrradstraßen – herausgekommen ist quasi eine „Fahrradstraße light“. Versierte Radler, die auch heute schon mit dem Rad fahren, dürften damit keine Probleme haben. Aber eigentlich möchte die Stadt doch, dass weit mehr Bürger aufs Rad steigen. Bei den bestehenden Verkehrsverhältnissen – und daran wird sich angesichts der vorliegenden Planungen voraussichtlich kaum etwas ändern – werden aber viele auch zukünftig diesen Schritt nicht tun.
Dass die Stadt unter diesem Gesichtspunkt die zugegebenermaßen nicht optimalen Radwege wegfallen lassen will, grenzt schon fast an Zynismus. Schließlich motivieren diese den einen oder anderen Bürger, vielleicht doch noch aufs Fahrrad zu steigen. Nur eine Einbahnregelung, welche mehr Raum auf der Fahrbahn bei gleichzeitiger Verringerung des Autoverkehrs mit sich bringt, würde die Radwege tatsächlich überflüssig machen.
Es mutet anachronistisch an, dass die Fahrradstraße aus der Geschäftswelt heraus schlecht geredet wird
Nicht berücksichtigt wurde bei den Planungen im Übrigen auch ausreichend viel Abstellfläche für die ständig steigende Zahl von Lastenrädern und Fahrradanhängern.
Es mutet fast schon anachronistisch an, dass mutmaßlich aus der Geschäftswelt heraus die Fahrradstraße schon vor ihrer Einrichtung schlecht geredet wird. Auf diese Weise wurde vor Jahren die damals zeitlich befristete Fußgängerzone kaputt gemacht, anstatt diese offensiv und positiv zu vermarkten.
Ohnehin liegt mit der Fokussierung auf autofahrende Kunden ein großer Denkfehler vor. Die Erfahrungen aus vielen anderen Städten zeigen mittlerweile, dass Rad fahrende Kunden zwar möglicherweise etwas weniger einkaufen, dieses dafür aber umso häufiger tun und dabei vor allem sehr viel ortstreuer sind.
Gerade in Rüttenscheid gibt es mittlerweile viele, die die Autofixiertheit nicht teilen
Es muss allen Beteiligten endlich klar werden, dass sich Rüttenscheid in den letzten Jahren stark gewandelt hat. Eine junge Generation hat hier Einzug gehalten, welche nicht mehr so auf das Auto fixiert ist. Da ist es schon befremdlich, wenn wiederum aus der Geschäftswelt der über die Rüttenscheider Straße führenden Nord-Süd-Achse – eine der wichtigsten Hauptradrouten in dieser Stadt – die Daseinsberechtigung abgesprochen wird.
Der Essener ADFC, sonst klarer Befürworter von Fahrradstraßen, sieht angesichts der völlig unzureichenden flankierenden Maßnahmen die Gefahr, dass die Umwidmung der Rüttenscheider Straße zum reinen Alibiprojekt verkommt.
Dabei hätte es gerade die „Rü“ verdient, auch weiterhin nicht zu einer reinen Automeile zu verkommen. Dafür gibt es die parallel geführte Alfredstraße. Auf der Rüttenscheider Straße muss allen Bürgern und damit allen Verkehrsteilnehmern gleichberechtigt Platz gewährt werden – nur das wird langfristig die Lebendigkeit eines Stadtteils ausmachen.