Essen-Rüttenscheid. . Nirgends sonst in Essen wählten mehr Menschen die Grünen als in Rüttenscheid und dem Südviertel. Das hat viel mit dem Lebensgefühl dort zu tun.

Rolf Fliß bemüht sich um Bodenhaftung. Nein, Genugtuung habe er nicht verspürt an diesem historischen Wahlabend, sagt der Rüttenscheider Grünen-Ratsherr. Stattdessen sieht sich der 60-Jährige „bestärkt in der Verantwortung, die ökologischen Ziele noch schneller voran zu bringen“. Dass die Grünen in seinem Heimatstadtteil Rüttenscheid mit 33,7 Prozent und dem benachbarten Südviertel mit 33,9 Prozent so gut abschnitten wie nirgends sonst in der Stadt, habe ihn nicht überrascht. Wie er es sich das erkläre? „Nun, hier leben einfach viele Menschen, die einen etwas anderen Lebensentwurf haben, zum Beispiel bewusst aufs Auto verzichten“, erklärt Fliß, der seit den 1980er-Jahren für die Grünen in Essen aktiv ist.

Tatsächlich ist der Nährboden für die Grünen im urbanen südlichen Speckgürtel der Innenstadt fruchtbar: Dort lebt jene gut ausgebildete junge Mittelschicht, für die grüne Kernthemen wie Klimaschutz und Digitalisierung weit oben auf der politischen Agenda stehen. So stieg die Zahl der 18- bis 45-Jährigen in Rüttenscheid, dem Südviertel und Holsterhausen in den vergangenen zehn Jahren an, während die Anzahl der Arbeitslosen zurück ging. Das geht aus Zahlen des städtischen Amts für Statistik hervor. Belegbar ist das „grüne Milieu“, von dem auch Rolf Fliß spricht, zudem anhand der Infrastruktur, die sich in den drei Stadtteilen zunehmend wandelt.

Co-Working-Orte und Car-Sharing vor allem im südlichen Speckgürtel der City

Wer etwa über den Carsharing-Anbieter „Stadtmobil“ ein Auto buchen möchte, der wird vor allem zwischen dem Stadtgarten und dem Grugapark fündig. Zuletzt wurden – allen Protesten durch die Interessengemeinschaft Rüttenscheid zum Trotz – weitere Ladeplätze für E-Autos an der Rüttenscheider Straße geschaffen.

Ähnlich verhält es sich mit der Start-up- und Coworking-Space-Dichte: Wer Orte für unabhängiges, digitales Arbeiten sucht, der findet sie rund um die Rüttenscheider Straße, wo sich innovative Arbeitskonzepte wie etwa das Kreativquartier Mathildenhof oder das Kabü angesiedelt haben.

Augenfällig ist auch, dass sich Initiativen und Geschäftskonzepte mit „grünem Anstrich“ besonders häufig in den drei besagten Stadtteilen niederlassen: egal ob Unverpackt-Laden, Second-Hand-Shops, Gemeinschaftsgärten der Transition-Town-Initiative, Repair-Café oder das geförderte Fachgeschäft für Stadtwandel auf der Gemarkenstraße, das für Nachhaltigkeit wirbt: Die Lebensrealität zwischen dem Moltkeviertel und dem Gemarkenplatz ist eben die des bewusst ökologisch konsumierenden Mittdreißigers, dem schnelles W-LAN und gute ÖPNV-Verbindungen weit wichtiger sind als ein eigener Parkplatz.

Rolf Fliß mahnt mehr Tempo bei Verkehrswende an

In Rüttenscheid könnte die Substanz der Grünen ausreichen, auch bei der Kommunalwahl in anderthalb Jahren stärkste Kraft zu werden. Ob das grüne Lebensgefühl in Essen aber auch stadtweit trägt, bleibt abzuwarten. Dafür brauche es vor allem Beharrlichkeit, glaubt etwa Grünen-Bezirksvertreterin Elke Zeeb. Sie sieht sich durch das Ergebnis der Europawahl etwa in den Bemühungen bestätigt, die Nord-Süd-Fahrradachse voran zu bringen. Rolf Fliß will den Schwung ebenfalls nutzen, um mehr Tempo bei der Essener Verkehrswende einzufordern. So müsse der sogenannte Modal-Split, mit dem sich der Anteil des gesamtstädtischen Verkehrs zu je einem Viertel auf Auto, Nahverkehr, Fußgänger und Radfahrer verteilen soll, in Essen deutlich früher als 2035 erreicht werden: „Das ist alles viel zu spät, wir müssen schneller werden“, mahnte Fliß an.