Essen. Sie kümmern sich seit Jahren um Flüchtlinge und suchen dringend Mitstreiter: „Ohne Hilfe klappt Integration nicht“, sagen Essener Ehrenamtliche.
Wo finde ich einen Kitaplatz, wer bezahlt meine Brille, wie trenne ich den Müll, wann werden die Kinder eingeschult, was ist ein Dauerauftrag? Der deutsche Alltag stellt viele Flüchtlinge bis heute vor Rätsel. Glücklich, wer einen Ehrenamtlichen an seiner Seite weiß, der eine Gebrauchsanweisung fürs Leben in Deutschland liefert. „Ohne solche Hilfe kann die Integration nicht gelingen“, sagen Jörg Stadler (68) und Gudrun Haas (57). Darum suchen die Aktivisten nun dringend Mitstreiter, die sich um Flüchtlinge kümmern.
Aus dem Ehrenamt entstanden zwei Kochbücher und viele Freundschaften
Sie selbst sind lange dabei: Gudrun Haas, die im öffentlichen Dienst arbeitet, hat sich schon 2009 in der Unterkunft an der Sartoriusstraße in Rellinghausen eingebracht, Kinder betreut, mit Bewohnern gekocht und gebacken. Freundschaften sind daraus entstanden und zwei Kochbücher. Jörg Stadler war bis zu seiner Pensionierung 2016 stellvertretender Schulleiter des Gymnasiums Borbeck und kam auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise zum Ehrenamt. „Ich habe mich einfach gefragt, welche Rolle ich spielen, wie ich helfen kann.“
Diese Frage stellten sich damals Hunderte. Heute ist der Runde Tisch Rellinghausen, bei dem sich Haas und Stadler jahrelang engagiert haben, aufgelöst. Andernorts bröckeln die Teilnehmerzahlen. Einige der Runden Tische, die es einst an jeder Flüchtlingsunterkunft gab, arbeiten weiter, betreuen nun die ehemaligen Bewohner, die in eigene Wohnungen gezogen sind.
„Ohne unsere Hilfe wären die Jugendlichen aufgeschmissen“
Die verbleibenden Helfer haben sich im Tisch der Tische vernetzt, tauschen sich über ihre Arbeit aus, treffen sich alle paar Monate. In den Anfangsjahren wurde der Tisch der Tische von Pfarrerin Dagmar Kunellis koordiniert, seit 2019 organisieren sich die Ehrenamtlichen selbst. Während andere Freiwillige über mangelnde Hilfe seitens der Stadt klagten, sprechen Haas und Stadler von einer guten Zusammenarbeit. Jugendamt, Sozialamt oder Ehrenamt-Koordination schickten stets Vertreter zu den Treffen. So biete der Tisch der Tische geballte Expertise. „Wer bei der Flüchtlingshilfe mitmachen möchte, findet bei uns eine Anlaufstelle“, sagt Jörg Stadler.
Auch interessant
Er selbst hat damals seine Rolle zunächst im Emil-Frick-Heim am Baldeneysee gefunden, wo zeitweilig alleinreisende Jugendliche untergebracht waren. Über die Arbeit mit den Schülern haben sich auch Stadler und Haas kennengelernt. Als die jungen Bewohner Ende 2016 ausziehen mussten und aufs ganze Stadtgebiet verteilt wurden, hielten sie Kontakt, kümmerten sich. „Die Jugendlichen wären sonst aufgeschmissen“, sagt der ehemalige Lehrer.
„Viele Schüler schauten nur aufs Handy, weil der deutsche Unterricht an ihnen vorbeilief“
In den eilig eingerichteten Internationalen Förderklassen an den Berufskollegs hätten viele keineswegs Deutsch gelernt, „sondern Krach gemacht oder ins Handy geguckt“ – während der Unterricht an ihnen vorbeilief. Einer seiner Schützlinge habe ihm Tag für Tag erzählt, dass er wieder Deutschunterricht hatte: „Er hat gar nicht mitbekommen, dass er auch andere Fächer hatte. Es war halt alles auf Deutsch und er hat nichts verstanden.“
Auch interessant
Vielfach gleichen die Ehrenamtlichen Defizite von Schulsystem und Elternhaus aus: Geben Nachhilfe, bringen den Jugendlichen bei, wie man eine E-Mail schreibt, helfen bei der Suche nach einem Praktikumsplatz. So erzählt Stadler von einem Jungen, dessen Eltern Analphabeten sind: „Er hat den Realschulabschluss mit Qualifikation gemacht, strebt jetzt das Abi an.“
Die Jugendlichen wissen oft nicht mal, wie man eine E-Mail schreibt
Damit Integration gelinge, müsse man häufig auch die Erwachsenen an die Hand nehmen, sie zum Arzt begleiten, Formulare mit ihnen ausfüllen. Und wenn jemand Theaterkarten an Flüchtlinge verschenke, müsse man mitgehen: „Die trauen sich da nicht alleine hin“, sagt Gudrun Haas. In einem Jahr hat sie allein 17 Urlaubstage damit verbracht, verschiedene Termine zu begleiten.
So viel müsse natürlich nicht jeder machen, aber jede Hilfe sei willkommen, sagt die 57-Jährige. Außerdem sei der Einsatz mit den Flüchtlingen für sie mehr Bereicherung als Belastung. „Das sind meine Kinder geworden.“