Essen. Altersarmut nimmt stark zu – auch im Ruhrgebiet. Ein Essener Rentner hat seine Wohnung verloren, zur Not übernachtet er in S-Bahn-Zügen.
Sie haben fast das ganze Leben lang gearbeitet, aber ihre karge Rente reicht hinten und vorne nicht. 3,2 Millionen Rentner in Deutschland gelten als armutsgefährdet oder arm. Tendenz: stark steigend. Einer aus diesem Millionen-Heer ist der Essener Helmut Werner: siebzig Jahre alt, alleinstehend, die letzten Monate ohne festen Wohnsitz. Werner könnte stundenlang jammern und fluchen über das Phänomen Altersarmut. Über das erniedrigende und bedrückende Gefühl, in einem der reichsten Länder der Welt ganz unten zu stehen. Doch der 70-Jährige denkt nicht daran, sich aufzugeben. Schon gar nicht seine Würde. „Auch wenn ich in der Scheiße stecke, weiß ich, wer ich bin.“
Selbstbeschreibung: „Lufttrocken, aber zäh – und’n Kopf größer als ‘ne Parkuhr“
Helmut Werner – das ist nicht sein richtiger Name. In Vogelheim aufgewachsen als eines von neun Kindern kennen ihn viele. Deshalb möchte er lieber anonym bleiben – auch aus Rücksicht auf seine Brüder und Schwestern. Zum Interview treffen wir uns auf eine Tasse Kaffee im Hauptbahnhof. Werner, ein hagerer Typ mit Glatze und Drei-Tage-Bart, witzelt über seine Statur. Er sei „lufttrocken, aber zäh – und’n Kopf größer als ‘ne Parkuhr“.
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Erst mit 63 sei er zum ersten Mal arbeitslos geworden, zwei Jahre später Rentner. Zunächst habe seine Rente 601 Euro betragen, seit der letzten Erhöhung seien es 721 Euro. Dafür übernehme das Sozialamt die Kranken- und Pflegeversicherung. Einpersonenhaushalte mit einem Netto-Einkommen von weniger als 1006 Euro gelten als armutsgefährdet. Werner liegt deutlich darunter. Er ist Aufstocker, ab und zu verdient er sich bei Messe-Jobs in Köln was dazu – „für zehn Euro die Stunde“.
Die Armut sieht man Helmut Werner nicht an. Er trägt blaue Jeans, einen grauen Hoodie und Boots, die Jacke hat Fellbesatz. „Meine Klamotten“, erzählt er, „die bewahre ich provisorisch in einem Schließfach am Hauptbahnhof auf.“ Er lege Wert auf saubere Kleidung, deshalb treffe es sich gut, dass er hin und wieder die Waschmaschine eines Freundes nutzen darf. „Ich will doch nicht rumrennen wie ein Schlumpf.“
Grauer Hoodie, Boots und Jeans: „Ich will doch nicht ‘rumrennen wie ein Schlumpf“
Armut, erst recht Altersarmut, ist für viele Betroffene ein Tabuthema. Obwohl ihnen Sozialhilfe zusteht, schrecken viele davor zurück, als Bittsteller den Fuß über die Schwelle des Sozialamtes zu setzen. Geld von der „Wohlfahrt“ anzunehmen empfinden besonders jene aus dem bürgerlichen Milieu als demütigend und erniedrigend. Auch Helmut Werner hat sich anfangs „geniert“, als er im Amt vorstellig wurde. „Aber ohne diese Hilfen wäre ich im Arsch gekniffen, ich bin dankbar, dass es sowas gibt.“
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Bis November hatte er sich mit seinem jüngeren Bruder (47) eine kleine Wohnung in Mülheim geteilt. Es war eine Unterkunft mit Macken. „Andauernd hat die Heizung nicht funktioniert, zwei Jahre sogar gar nicht“, berichtet Werner. Zuerst habe er die Mietzahlung gesenkt, aber als sie dann auch noch die Wände „abgekloppten“ und das Treppenhaus voller Dreck gewesen sei, habe er zwei Monate gar keine Miete mehr gezahlt. Im Grunde hat er so die Kündigung provoziert. „Ausgezogen sind wir dann freiwillig.“
Die S1 als rollendes Obdach: „Im Zug habe ich Zeitung gelesen oder gedöst“
Doch wohin? Nun, der Tisch, das Bett, die Stühle und andere Habseligkeiten werden kurzerhand in einem Lager verstaut. „Und dann bin ich nachts im Zug durchs Ruhrgebiet gefahren.“ Kaum zu glauben, aber wahr: Die roten, grünen und silbernen Wagen der Regionalzüge und S-Bahnen dienen Helmut Werner fast drei Wochen als Nachtlager. Das Bärenticket ist Fahrschein für die erste Klasse und Schlüssel zum rollenden Nachtasyl. Mit dabei: sein jüngerer Bruder, der ebenfalls wohnungslos ist.
Eine skurriler, aber pfiffiger Trick: Bahnfahren zum Mondscheintarif. „Im Zug habe ich Zeitung gelesen oder gedöst“, erzählt Werner. Die S-Bahnlinie S1 sei sein Favorit gewesen. „Da sitzt du zwischen Solingen und Dortmund sechs Stunden am Stück im Zug, hin und zurück.“ Einmal sei er in einem Regionalexpress eingeschlafen und erst in Kamen aufgewacht.
Dass der Herbst seines Lebens derart bescheiden ausfallen würde, habe er sich nie vorstellen können. Seine Mutter sei Hausfrau gewesen, sein Vater Bergmann. Zuerst auf Emil Emscher in Essen, später als Steiger auf Prosper-Haniel. „Mein Zwillingsbruder ist eine halbe Stunde älter als ich“, sagt Werner und lächelt. Ihm gehe es materiell viel besser.
„Für mein Stottern habe ich mich in der Schule geschämt“
Mit vierzehn geht er in einer Metzgerei in die Lehre, später verpflichtet er sich bei der Bundeswehr und arbeitet zwischendurch als Koch. Danach die Meisterprüfung – „um den anderen zu beweisen, dass ich doch was drauf habe“. Helmut Werner hält kurz inne und erzählt vom Trauma seiner Kindheit. „Ich hatte einen schlimmen Sprachfehler, in der Schule habe ich mich oft für mein Stottern geschämt.“ Doch er arbeitet an sich selbst und bügelt sein Handicap langsam aus.
Beruflich alles im Lot glaubt er mit dreißig, auch sein privates Glück gefunden zu haben. Er heiratet eine Witwe mit vier Kindern. Doch die Ehe soll nur fünf Jahre halten. „Eines Tages komme ich von der Arbeit und sie vergnügt sich mit dem Nachbarn.“ Spätestens da sei ihm aufgegangen, dass sie ihn gar nicht geliebt, sondern es auf sein Geld abgesehen habe. „Ich habe immer gut verdient und sie wollte mich ablinken.“
Warme Mahlzeiten gibt’s bei den Fairsorgern und den indischen Schwestern
Als er dann auch noch an der ansteckenden Gelbsucht erkrankt, ist es vorbei mit dem Metzger-Job. Er wechselt in die Logistikbranche, arbeit im niederländischen Venlo. Auch dort habe er „geknüppelt und noch gutes Geld verdient“. Doch es folgte auch so manche Phase als Schwarzarbeiter oder Geringverdiener. Zehn Jahre lang habe er eine pflegebedürftige ältere Dame betreut – „bis zu ihrem Tod“. Wer weniger in die Rentenkasse einzahlt, kriegt auch weniger raus. Dass er heute jedoch als Bedürftiger dastehe, wurme ihn sehr.
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Alt und arm: Wenn Helmut Werner im Supermarkt einkauft, musst er jeden Cent zweimal umdrehen. Ein Auto, einen Urlaub, einen Abend im Kino und Restaurantbesuche – all das kann er sich nicht leisten. „Wir hangeln uns durch“, sagt er, und zählt Anlaufstellen auf, die helfen. Dreimal in der Woche steht er mit seinem Bruder abends an der Kirche St. Gertrud bei den „Fairsorgern“ an, wo Ehrenamtliche warme Mahlzeiten an Bedürftige austeilen. Auch die Heilsarmee und die Suppenküche der „indischen Schwestern“ seien eine gute Adresse. Und bei Minusgraden helfe der Kältebus des DRK.
Zurzeit teilen sich die Brüder ein Zimmer in der Wohnung eines Bekannten in Steele. Dort ernähren sie sich von Tiefkühlkost, Konserven und „Fleisch kurz vorm Ablaufen“. Bier und Schnaps spielten überhaupt keine Rolle in seinem Leben, erst recht keine Drogen. „Gelegentlich rauche ich eine Zigarette, die lass ich mir nicht nehmen“.
Wut auf die Regierenden: „ . . . und wir müssen uns auf dem Amt nackig machen“
Natürlich sucht Helmut Werner die Schuld für seine Misere bei sich selbst. Aber er fühlt sich auch ausgrenzt und abgehängt – genauso abgehängt wie das Ruhrgebiet. Eine Region, an der der jahrelange Aufschwung weitgehend vorbeigegangen ist. Dass soziale Ungleichheit zugleich ein idealer Nährboden für Populisten ist, bewahrheitet sich im Essener Norden. In den alten Arbeiterquartieren im Umkreis des Welterbes Zollverein kommt die AfD mühelos auf mehr als 20 Prozent, im wohlhabenden Süden sind sie nahezu bedeutungslos.
Auch Werner hat sich längst von der politischen Mitte verabschiedet. Zu Kohls Zeiten sei er noch aktives CDU-Mitglied gewesen, heute macht er kein Hehl daraus, sein Kreuz bei der AfD zu setzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel nimmt er übel, dass sie so viele Flüchtlinge ins Land gelassen habe, die seiner Ansicht nach obendrein bevorteilt werden. „Denen wird das Geld hinterher geworfen und wir müssen uns auf dem Amt nackig machen.“
Armut sei keine Schande, sagt er fast beschwörend. Das Vertrauen in die Regierenden habe er verloren, trotzdem hofft er auf bessere Tage. Und darauf, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, vielleicht sogar wieder eine feste Bleibe in einer eigenen Wohnung. Und falls es nicht klappt? „Dann kloppen wir uns wieder die Nächte im Zug um die Ohren.“