Essen. . Viele Jahre lang lebte eine nun 31 Jahre alte Essenerin als Obdachlose und hat Grausames erlitten. Jetzt hat sie endlich einen Job. Ihr Bericht:
Lisa* (*Name geändert) ist vor einer Woche 31 geworden. Eine junge, eher introvertierte Frau, die viel Grausames erlebt hat. Mehr als die Hälfte ihres Lebens hat die Essenerin auf der Straße gelebt. Sie hat im Zelt am Flussufer gewohnt und im Winter in Kaufhaus-Eingängen geschlafen. „Elf Jahre war ich obdachlos und sieben ohne festen Wohnsitz“, berichtet sie. Und fügt beinahe ohne Gefühlsregung einen Satz hinzu, der einem den Hals zuschnürt. „Diese Zeit“, sagt sie, „war für mich die Hölle.“ Was Mut macht: Lisa spürt inzwischen festen Boden unter den Füßen und freut sich auf Weihnachten. „Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder mit der Familie.“
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Ohne Obdach. Ohne Geld. Ohne Wärme. Ohne Liebe: ein Leben auf der Schattenseite der Wohlstandsgesellschaft. Doch wie ist es dazu gekommen? „Obdachlos wirst du nicht über Nacht“, erwidert Lisa und holt weit aus. Die ersten Nackenschläge muss sie schon als kleines Mädchen einstecken. Da lebt sie mit ihrer Familie – den Eltern, der älteren Schwester und dem jüngeren Bruder – im nördlichen Ruhrgebiet. Der Vater, von Beruf Bergmann und daheim ein Tyrann, ist ständig betrunken und gewalttätig. „Er hat meiner Mutter den Adventskranz auf den Kopf gehauen und es jedesmal geschafft, Weihnachten schon drei Tage vorher zu versauen.“
Der Vater verprügelt die Mutter, die Polizei bringt die Kinder ins Frauenhaus
Einmal begräbt er das wehrlose Kind unter einem umgekippten Küchenregal und tritt wie ein Irrer darauf herum. Geblieben von dieser Misshandlung ist eine Narbe am Rücken. Lisa erinnert sich auch daran, dass die Polizei die Kinder eines nachts ins Frauenhaus bringt. „Im Zimmer nebenan hat er meine Mutter krankenhausreif geschlagen.“ Als die zerrüttete Ehe geschieden wird, verliert die Siebenjährige jeden Halt. Sie schwänzt oft die Schule und kommt sich vor wie eine tonnenschwere Last. „Ich wurde von einem Elternteil zum anderen geschoben, ein ewiges Hin und Her.“
Von ihrer eigenen Mutter, die mehr mit sich selbst beschäftigt gewesen sei, erfährt sie wenig Zuneigung. Liebe? Sie schüttelt energisch den Kopf: „Nee, die habe ich nie gehabt.“ Statt aufzuschreien hält sie lieber den Mund, frisst den Kummer unter dicken Tränen in sich hinein. Erst jetzt, nachdem sie die Hölle durchschritten hat und endlich zuversichtlich nach vorn schaut, lässt sie andere tief in ihre Seele blicken. Sie traut sich, das Unfassbare auszusprechen. Dass der eigene Vater sie missbraucht und vergewaltigt hat. Dass sie mit 13 im Heim den ersten Joint raucht und schon als Minderjährige anschaffen geht. Dass sie sich aus schierer Verzweiflung die Arme blutig schneidet und irgendwann lebensmüde ist. „Die schlimmste Verletzung war das Gefühl, dass mich niemand festgehalten hat.“ Ihr Vater, zuletzt ein Messie, wird nie verurteilt, er ist 2011 gestorben.
Martyrium zwischen Heimen, Schulen und Zuhältern
Die Odyssee, die nun beginnt, ist immer auch Martyrium. Von der Heimatstadt nach Bottrop, von Herne nach Dortmund, von Wuppertal nach Essen. Von Schule zu Schule, von Heim zu Heim, von Zuhälter zu Zuhälter. „Zwischendurch schickte mich das Jugendamt in die Kinder- und Jugendpsychiatrie nach Thüringen, dann zu einer Pflegefamilie nach Rumänien – das war krass.“
Jedesmal wenn ihr Sozialarbeiter und Erzieher, Polizisten und Inspektoren gegenübersitzen, verschränkt sie trotzig die Arme und blockt ab. Ihre Körpersprache verrät: Bloß niemanden ranlassen. Lisa lebt auf der Flucht vor anderen und vor sich selbst. „Expertin im Abhauen“ – diesen Ruf hat sie in der Szene damals schnell weg. Heute lacht sie darüber.
„Möchtest du ein schöneres Leben haben, dann komm mit“
Es klingt banal, wenn sie von grimmigen Wintertagen erzählt. „Du frierst, wenn du die ganze Nacht über die Straße läufst. Dann ein Becher Glühwein, ein Schluck Wodka, zwei, drei Bier – und du legst dich zum Schlafen bei Woolworth in die Tür.“
Obdachlose wählen solche Orte gerne als Nachtlager. Nicht weil’s dort wärmer sei, sondern sicherer – Videokameras zeichnen auf, Polizisten gehen Streife und besorgte Anwohner passen meistens gut auf. „Die Verkäuferinnen gaben mir eine Wolldecke und Wasser, andere Süßigkeiten und ein Brötchen. Das werde ich nie vergessen.“ Eines nachts – „um 2.50 Uhr“ – erkundigt sich ein Ehepaar nach Lisas Alter und sagt: „Möchtest du ein schöneres Leben haben, dann komm mit.“ Sie richten ihr ein gemütliches Zimmer ein, aber das Experiment scheitert schnell. „Nach drei Tagen war ich weg, ich fühlte mich unwohl.“
Abenteuer und zwei Ehen
Ihre Mutter erfährt von alledem nichts, erst recht nichts davon, dass sie sich prostituiert und Drogen nimmt. Lisa, die sich auffällig präzise an Daten, Uhrzeiten und Zahlen erinnert, sagt: „Einmal war ich 191 Tage lang vermisst.“ Sie habe Abenteuer erlebt, die sie nie habe erleben wollen. Dazu zählen auch zwei Ehen, die nur auf dem Papier geschlossen werden. „Mit Türken, die eine Aufenthaltserlaubnis brauchten.“ Jeweils 17.000 Euro kassiert sie dafür. Geld, das sie auf den Kopf haut: eine neue Uhr, ein Mittelmeerurlaub und, schwupp, weg war’s.
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Es mag verstörend klingend: Lisa empfindet ihr Leben auf der Straße rückblickend nicht immer nur als Qual, sondern oft sogar wie eine süße Sucht. „Du glaubst, viele Freunde zu haben und genießt das Gefühl von Freiheit. Du zahlst weder Miete noch Strom, lebst in den Tag hinein und sorgst dich um nichts.“
Die scheinbar romantische Seite der Obdachlosigkeit
Erst mit 24 verliebt sie sich zum ersten Mal über beide Ohren. „Nesko“, ein Bulgare, ist ihr erster fester Freund. „Doch nach einer Woche erfahre ich, dass er heroinabhängig ist und dealt.“ Zuerst will er es verbergen, doch sie kommt ihm schnell auf die Schliche. „Ich fand komisch, dass er ständig so lange im Bad war und ich nicht ins Schlafzimmer durfte.“
Dort setzt er sich heimlich einen Schuss und hier faltet er die Heroinpäckchen für Junkies. Es dauert nicht lange, da zieht auch Lisa eine Nase Kokain und raucht Heroinzigaretten. „Eines Abends war ich kurz vor einer Überdosis.“ Nesko rät ihr am nächsten Morgen lapidar: „Geh kotzen und trink viel.“
Tiefpunkt: Drogensüchtig und der Freund im Knast
Eines Tages stürmt ein Spezialeinsatzkommando die Wohnung und legt ihren Freund in Handschellen. Für eine Messerstecherei wandert er zwei Jahre in den Knast. Die Beziehung zerbricht und Lisa ist ganz unten angelangt. Verprügelt, missbraucht, vergewaltigt, kein Abschluss, keine Berufsausbildung, jahrelang obdachlos und auf dem Strich, obendrein heroinabhängig. Kann man noch tiefer sinken?
Für Lisa ist der Tief- zugleich Wendepunkt. Ihr Leben handelt nicht nur von dramatischen Demütigungen und endlosen Enttäuschungen, sondern – seit drei Jahren schon – auch vom erfolgreichen Kampf gegen den inneren Schweinehund. „Seit dem 3. April dieses Jahres bin ich entgiftet, ich habe eine eigene Wohnung in Holsterhausen und bin seit Oktober berufstätig – in einem Geschäft auf der Kettwiger.“ Wer ihr zuhört, spürt wie unendlich stolz sie auf diese Etappensiege ist.
Lisa spürt Respekt und sagt: „Ich schäme mich nicht mehr“
Die 31-Jährige weiß aber auch, dass sie den Absprung aus der Abwärtsspirale ohne fremde Hilfe womöglich nie geschafft hätte. Da ist die selbstlose Substitutionsärztin, die sie morgens um halb sieben abholt und zur Wohnungsbesichtigung fährt. „Mittags hatte ich schon die Schlüssel.“ Die Ersatzdroge Methadon gibt ihr tatsächlich Halt. Und es tut ihr gut, dass sie in Essen anfängt, anderen Obdachlosen zu helfen. Eine Freundin in Essen vermittelt ihr schließlich den Job auf der Kettwiger. Es tut ihr gut, dass sie endlich respektiert wird. „Die Leute kennen meine Geschichte und ich schäme mich nicht mehr“, sagt Lisa. „Ich stehe dazu und bin sogar stolz drauf.“
Einen festen Freund hat Lisa nicht, sie sei lieber allein, auch aus Angst vor einer neuen herben Enttäuschung. Finanziell kommt sie über die Runden und mit Hilfe der Schuldnerberatung will sie aus den Miesen kommen. „Ich stehe jeden Morgen auf und freue mich, was ich geschafft habe. Wow, das ist der Burner.“ In ihrer Freizeit geht sie gerne spazieren und hört viel Musik. Ihr größter Traum? „Zwei Wochen Urlaub, ich allein, egal wohin.“
>>>HILFE FÜR MENSCHEN OHNE FESTEN WOHNSITZ
Der Verein FairSorger Essen (fairsorger-essen.de) verteilt dreimal pro Woche abends an der Gertrudiskirche warmes Essen, Lebensmittel, Kleidung und Hygieneartikel an Bedürftige.
Die Weihnachtsfeier der Zentralen Beratungsstelle für Wohnungslose ist am 24. Dezember im Uni-Zentrum Brücke, Universitätsstraße 19. Einlass: 11 Uhr