Essen. Schauspieler Martin Lindow wählt seine Rollen sorgfältig aus. Als zutiefst zerrissener Pfarrer ist er in „Borowski und das Haus am Meer“ zu sehen

Er hat Polizisten gespielt im „Fahnder“ oder im „Polizeiruf 110“. Derzeit fühlt sich Martin Lindow auf der Seite der Verdächtigen sehr wohl, „weil die Gegenspieler gute Rollen sind“. Im „Tatort“ verkörpert der Schauspieler nun einen Pfarrer im Ausnahmezustand. Am kommenden Sonntag wird „Borowski und das Haus am Meer“ in der ARD ausgestrahlt.

Das Drehbuch von Niki Stein hat ihn sofort gepackt. „Die Atmosphäre ist so greifbar. Man kann die Ostsee riechen und das Dunkle ihm Pfarrhaus spüren“, erklärt Martin Lindow. Er war begeistert von der Zusammenarbeit mit dem Autor und Regisseur, der ursprünglich aus Essen stammt und sich zum Tatort-Experten entwickelt hat, wie von der Besetzung und der komplexen Geschichte. „Das versprach Klasse.“

Der erste Eindruck täuschte nicht. Vor allem, was seine Figur Johann Flemming angeht. „Er hat den Kopf nicht mehr über Wasser. Er ist eine verlorene Seele. Der wollte ich nachgehen“, sagt der 54-Jährige. Zu einem näheren Kennenlernen mit Borowski-Darsteller Axel Milberg ist es neben den Dreharbeiten, die im Herbst 2018 in Kiel und Umgebung stattfanden, nicht gekommen. „Ich war sehr fokussiert auf die Rolle.“

Den in Werden beheimateten Schauspieler interessiert das Menschliche der Figuren

Zuerst ruft sein in sich gekehrter Pfarrer mit Schmerzensmiene Unverständnis hervor: Er dominiert den kleinen Sohn und die Ehefrau, doch gegen den an Alzheimer erkrankten Vater kommt er kaum an. Der wird ermordet aufgefunden. In einem Wechselspiel aus gegenwärtigen Ermittlungen und Rückblenden offenbart sich sein Trauma als verstoßener Sohn. „Man kann nur weitergeben, was man selbst erfahren hat“, so Lindow. „Er rettet sich in den Glauben. Das ist sein Korsett.“ Die Erlösung ist es nicht.

Den in Werden beheimateten Schauspieler interessiert das Menschliche der Figuren. „Wie bewältigen sie das Leben“, fragt er sich jedes Mal - als invalider Handwerker, dessen Frau anschaffen gehen muss in „Unter anderen Umständen“, als Polizist mit drogenabhängiger Freundin in „Ein starkes Team“ oder als Vater eines ermordeten Unfallfilmers in „Der Kriminalist“. Ob unter Verdacht oder nicht: Immer wieder holt ihn die Konfrontation mit der Schuld oder Mitschuld ein.

In diesem Jahr drehte er mit den Ermittlern des Münchner „Tatort“ „Unklare Lage“. Er hatte nur drei Drehtage, aber die waren von großer Intensität. Er ist wiederum ein Vater. Einer seiner beiden Söhne hatte offenbar einen Amoklauf geplant und wird vom SEK erschossen. „Die Szenen sind so gewaltig und so anspruchsvoll. Das musste ich einfach spielen“, meint Lindow.

Der „Nordholm“-Zweiteiler „Das Mädchen am Strand“ war für ihn geradezu entspannt

Dagegen war der Zweiteiler „Das Mädchen am Strand“ aus der Reihe „Nordholm“ für ihn geradezu entspannt. Er ist der neue Freund von Kleinstadtpolizistin Hella Christensen, hat ein Fischrestaurant und mal einen Schlagabtausch mit seinem Vorgänger. „Das ist eine ganz ungebrochene Figur.“ Und die bietet die Chance mit der geschätzten Barbara Auer und dem herausragenden Rainer Bock zu arbeiten. „An solchen Kollegen kann ich wachsen.“

Es läuft gut für Martin Lindow. Er hätte noch öfter vor der Kamera stehen können, will das aber nicht um jeden Preis. „Ich muss mir genau überlegen, was ich spiele. Ich habe viel abgesagt“, erwähnt er. Über ein schlechtes Drehbuch kann er nicht hinwegsehen, selbst wenn der Drehort verlockend ist. Die Größe der Rolle ist für ihn beim Fernsehen nicht entscheidend. Am Theater sehnt er sich schon nach Hauptrollen in einem Shakespeare oder Pinter.

Nach über 30 Jahren auf Bühnenbrettern und vor Kameras „kann ich hochzufrieden sein“. „Einzig mein Talent zur Komödie, das mir schon Diether Krebs bescheinigte“, sagt Martin Lindow, „taucht auf meinem Weg viel zu selten auf.“