Essen. Bei der Kommunalwahl 1999 erlebte Essen einen Umbruch mit Folgewirkung: Die CDU deklassierte die SPD - und zelebriert die Erinnerung daran.
Ziemlich genau 22 Jahre ist es her, dass fast alle Städte des Ruhrgebiets ein politisches Erdbeben erlebten, und Essen war so etwas wie das Epizentrum: Bei der Kommunalwahl am 13. September 1999 endete die jahrzehntelange Dominanz der Essener SPD, die scheinbar ewige Oppositionspartei CDU kam in die Verantwortung, symbolisiert vor allem durch die sensationelle absolute Mehrheit im ersten Wahlgang für Oberbürgermeister-Kandidat Wolfgang Reiniger. Bei einer Veranstaltung im Ratssaal erinnerte der frühere Stadtdirektor, OB-Büroleiter und CDU-Fraktionsgeschäftsführer Christian Hülsmann 2019 an diese Umbruchzeit, die mittlerweile auch schon reif für die Historisierung ist. „Gut möglich, dass ich daraus mal ein Buch mache“, so Hülsmann.
Die Essener SPD bekam nicht mehr mit, wie sehr es im Wahlvolk rumorte
Kein politischer Umbruch kommt einfach so, alle haben eine Vorgeschichte. Und dazu gehört zu allererst, dass die machtgewohnte Essener SPD unter der ebenso robusten wie umstrittenen Führung von Ratsfraktionschef Willi Nowack nicht mehr recht mitbekam, wie sehr es im Wahlvolk rumorte. Zu Recht nennt Hülsmann als Beispiel das vom damaligen CDU-Fraktionschef Reiniger betriebene und zum Erfolg geführte Bürgerbegehren gegen den Teilabriss des Saalbaus, den die SPD 1997 beschlossen hatte. „Das war im positiven Sinne ein Brandbeschleuniger. Spätestens da war uns klar, dass etwas in Bewegung gekommen war in Essen.“
Unter politikstrategischen Gesichtspunkten vielleicht noch wichtiger: Beim Saalbau-Bürgerbegehren, beim gemeinsamen Sammeln von Unterschriften gegen den Abriss, waren sich CDU und Grüne nähergekommen, die bei allen politischen Unterschieden dem Machtgebaren der Nowack-SPD in großer Abneigung verbunden waren.
Die Grünen entwickelten sich zur verlässlichen Stütze der CDU
„Wir hatten einige Jahre zuvor begonnen, uns zu lockern und mit den Grünen fair umzugehen, der Saalbau hat uns dann zusammengeschweißt“, erinnert sich Hülsmann. Mehrfach fanden CDU und Grüne dann in den folgenden Jahrzehnten in unterschiedlichen Konstellationen zusammen, die Grünen wurden zur verlässlichen Stütze der CDU, und das schwarz-grüne Einvernehmen in Essen fand sogar überregional Beachtung. Und auch der heutige OB Thomas Kufen pflegt diese Kontakte weiter. Hier gibt es mehr Artikel, Bilder und Videos aus Essen
Für Hülsmann ist aber klar: Ohne Wolfgang Reinigers Gespür wäre manches anders gekommen. Als die Kommunalverfassung 1994 geändert wurde, die Ämter des OB und des Oberstadtdirektors zusammengelegt wurden und der OB 1999 erstmals in direkter Wahl zu bestimmen war, habe Reiniger ihm früh prognostiziert: „Wir kommen in die Stichwahl.“ Nicht viele in der Essener CDU, gewohnt, von der SPD haushoch geschlagen zu werden, hielten das für wahrscheinlich. 1997 machte ein CDU-Parteitag den Bredeneyer Rechtsanwalt und Notar zum OB-Kandidaten, auch weil andere Christdemokraten sich die vermeintliche Wahl-Klatsche ersparen wollten.
SPD-Kandidat Detlev Samland trat mit großer Siegesgewissheit in Essen auf
Die tief zerstrittene SPD tat der CDU dann – im Nachhinein betrachtet – den entscheidenden Gefallen: Sie stellte Detlev Samland als OB-Kandidaten auf, und damit „den genauen Gegenentwurf zu Reiniger“, wie Hülsmann sagt. Der gelernte Stadtplaner, langjährige EU-Abgeordnete und brillante Rhetoriker Samland trat im Wahlkampf mit großer Siegesgewissheit in Essen auf und ließ kaum einen Fettnapf aus. Hülsmann: „Er tat so, als wäre die Wahl Formsache, als wäre es eigentlich unter seiner Würde überhaupt gegen Reiniger anzutreten.“
Legendär etwa Samlands „Saubermann“-Auftritt an der Marktkirche, die er mit großer Geste eigenhändig von Schmierereien zu befreien versuchte, jedoch ohne den Pfarrer zumindest zu informieren geschweige denn ihn um Erlaubnis zu bitten. „Die Stadt gehört uns“ - von dieser lange gewachsenen arroganten Attitüde vermochte sich die Essener SPD seinerzeit einfach nicht zu lösen. Und der Kandidat demonstrierte es vielfach.
Eine Massenflucht des SPD-Milieus ins Lager der CDU
Hülsmann, später als Personaldezernent hautnah mit der Stimmung im Rathaus vertraut, hält aber etwas anderes für den größten Fehler Samlands: die eigentlich durch und durch sozialdemokratisch geprägte Stadtverwaltung mit Drohungen und offener Verachtung verschreckt zu haben. „Wer den versammelten Amtsleitern lapidar mitteilt, dass sie bald mal richtig arbeiten müssten, braucht sich über die Reaktion nicht zu wundern.“ Dass Reiniger die Wahl völlig überraschend im ersten Wahlgang mit 51,7 Prozent gewann, Samland nur 36,4 Prozent erhielt, hatte jedenfalls erkennbar auch mit einer Massenflucht des SPD-Milieus ins Reiniger-Lager zu tun - und mancher Rathaus-„Sozi“ gab das hinter vorgehaltenen Hand auch offen zu.
Hülsmann hält die dann folgende Reiniger-Ära, in der er als Macher im Hintergrund eine wichtige Rolle spielte, für „goldene Jahre der Stadtgeschichte“, in denen Essen modernisiert und baulich vorankam. Allerdings wurde dabei Geld, das die Stadt gar nicht hatte, mit vollen Händen ausgegeben und ein Schuldenberg angehäuft, an dem Essen noch heute krankt. Reiniger habe auch einen neuen Geist in die Verwaltung getragen, indem er viele Sozialdemokraten auf ihren Posten beließ. „Die Leistung war wichtiger als das Parteibuch“, so der frühere Stadtdirektor.
OB-Ära Paß brachte der SPD keinen neuen kommunalpolitischen Schub - im Gegenteil
Der im Ruhestand zum Historiker der Essener CDU avancierte Hülsmann sagt mit einigem Stolz, die Essener CDU sei seit 1999 der wichtigste politische Faktor in Essen geblieben - sehr im Unterschied zu anderen Ruhrgebietsstädten, in denen sich die SPD nach ihrem kommunalpolitischen Katastrophenjahr wieder berappelte. Zwar gab es zwischen Reiniger und Kufen die OB-Jahre von Reinhard Paß (2009 bis 2015), die aber für die SPD keinen Kraftschub brachten, sondern im Gegenteil neue Zwietracht. „Kufen nutzte hingegen diese Zeit, um mit dem Viererbündnis aus Grünen, FDP und EBB im Rat kommunalpolitisches Profil zu gewinnen“, lobt Hülsmann.