Essen. Nach zehn Jahren verabschiedet sich Wolfgang Reiniger als Essener Oberbürgermeister. Er hat das Amt auf seine Weise interpretiert: In Erinnerung bleibt das Bild eines zurückgenommenen Stadtoberhauptes. Eine Würdigung.
Die Debatte verliert sich gerade in den Details der Zweitwohnsitz-Steuer und der Frage, inwieweit Dauercamper hierbei zur Kasse gebeten werden dürfen. Wolfgang Reiniger kauert auf dem kleinen Podest am Kopf des Ratssaals in seinem Ledersessel und schaut, als müsste er augenblicklich den Beistand der Stadtpatrone Cosmas und Damian erbitten. Ausgerechnet die letzte Sitzung des Stadtparlaments, dem er als Oberbürgermeister zehn Jahre vorstand, mutet ihm noch einmal ein solch wenig zielführendes Wortgeplänkel zu. Nicht, dass Reiniger den demokratischen Diskurs gering schätzte. Dafür ist er viel zu korrekt. Doch Alarmismus am Rednerpult empfindet der nüchterne Jurist als unangemessen. Also gestattet er sich feinen Spott: „Wir scheinen”, raunt er vernehmbar ins Saalmikrofon, „an einem zentralen Problem der Stadt Essen angekommen zu sein.”
Es gibt über Wolfgang Reiniger nicht viele solcher Geschichten, die Einblicke erlauben in seine Gefühlswelt. Sieht er sich ungerecht behandelt, kann er zwar in selbst formulierten Pressemitteilungen mitunter einen wüsten Ton anschlagen. Auch wird berichtet, dass er im Büro gelegentlich mit der Faust auf den Tisch haue. Insgesamt aber bleibt von diesem Oberbürgermeister, der in der kommenden Woche nach zehn Jahren aus dem Rathaus auszieht, das Bild eines zurückgenommenen Stadtoberhauptes in Erinnerung. Welche Ironie, dass gerade dieser ausgleichende und ausgeglichene Mensch durchaus polarisierte: Manche empfanden Reinigers Bescheidenheit und Rechtschaffenheit als Zier, anderen galt er als entscheidungsschwach und unpolitisch.
Reiniger war der erste Oberbürgermeister, der nach der Kommunalreform 1999 oberster Verwaltungschef und Repräsentant in Personalunion war. Nach seinem Sensationssieg gegen den hohen SPD-Favoriten Detlev Samland musste er ein Amt erst interpretieren, das es in dieser Form vorher nicht gab. Reiniger entschied sich, die Stadt im Stile eines Anwalts und Notars zu führen, der er ja im Hauptberuf bis dahin war. „Ich muss nicht über jedes Stöckchen springen, das man mir hinhält”, beschrieb er seine Haltung, die Dinge im Zweifel auch mal laufen zu lassen.
Obwohl er seit über 40 Jahren in der CDU aktiv ist und früh in den Stadtrat kam, zog er den Buchstaben des Gesetzes stets der politischen Parole vor. Taktisch mag dies zunächst ein Gebot der Klugheit gewesen sein, denn in einer über Jahrzehnte sozialdemokratisch dominierten Stadt läuft ein „schwarzer” Chef andernfalls schnell vor Wände. Es war aber wohl noch mehr sein Charakterzug. Reiniger hält Seriosität für wichtiger als pures Sendungsbewusstsein. In Wirtschaft und Verwaltung kam dies nicht selten als Zögerlichkeit an. Kopfschüttelnd wurde registriert, wie er brenzlige Situationen – etwa die Affäre um den Philharmonie-Intendanten Michael Kaufmann oder den Ärger um antisemitische Ausfälle einer Stadtmitarbeiterin – nach Aktenlage zu entscheiden suchte. Politisch motiviertes, situatives Handeln schien er nicht im Repertoire zu haben.
Wolfgang Reiniger hatte in seinen zehn Amtsjahren stets Leute um sich, die ihm die Rolle des präsidialen Oberbürgermeisters ermöglichten. Zunächst war dies der heutige Stadtwerke-Chef Bernhard Görgens als Stadtdirektor. Görgens gilt als politisches Schwergewicht und heimlicher Vorsitzender der CDU, ein Strippenzieher von hohen Graden. Später konnte sich Reiniger blind auf Görgens-Nachfolger Christian Hülsmann verlassen, mit dem er eine Arbeitsteilung verabredet zu haben schien. Hier der vornehme Bredeneyer Dr. Reiniger, dort der bienenfleißige Hülsmann, Sohn eines Turnhallen-Hausmeisters, der sich in einer bemerkenswerten Karriere vom Verwaltungs-Azubi an die Rathaus-Spitze hochgearbeitet hat. Hier der wägende Chef, dort der wortgewaltige Stadtdirektor, der bis heute in aufrichtiger Verbundenheit sagt: „Auf meinen OB lasse ich nichts kommen.”
Wer Reiniger in den vergangenen Monaten beobachtete, konnte schwer übersehen, dass der Mann mit sich im Reinen ist. Er ist 2004 wiedergewählt worden, weil die meisten Essener ihn und seine Art augenscheinlich schätzen. Ihm glückte ein eleganter Abgang, weil er frühzeitig auf eine dritte Amtszeit ab 2009 verzichtete. Wenn man alles, was in den vergangenen zehn Jahren in und mit der Stadt passiert ist, auf das OB-Konto bucht, summiert es sich zu einer beachtlichen Bilanz: Kulturhauptstadt, Thyssen-Krupp, Hauptbahnhof, Uni-Viertel, Folkwang-Museum, Weltkulturerbe Zollverein, Richtfeste und Neueröffnungen, wohin man sieht. Man nimmt Reiniger ab, dass er zufrieden ist und sich auf den Ruhestand freut. Er will an seiner Marathon-Zeit arbeiten, die schon unter der 4-Stunden-Grenze liegt. Und der verheiratete Vater von zwei Kindern will endlich mehr Zeit für seine Enkelin haben.
Wenn Reiniger vom „verehrten Amtsnachfolger” Reinhard Paß spricht, gewinnt man nicht den Eindruck, als schmerze es ihn, das OB-Büro wieder an einen SPD-Mann abgeben zu müssen. Paß ist beeindruckt vom „guten Stil”, mit dem Reiniger die Geschäfte übergebe. Möglicherweise schwingt bei Reiniger ein wenig Genugtuung mit. Frühzeitig sollen er und Stadtdirektor Hülsmann die CDU gewarnt haben, die Kommunalwahl werde kein Selbstläufer. Den Amtsträgerbonus des OB dürfe man in seiner Wirkung nicht verachten. Jeder weitergehende Hinweis auf die Bedeutung der eigenen Popularität für die Partei hätte als Eitelkeit ausgelegt werden können. Und wohl wenigen Menschen in diesen Sphären ist sie derart wesensfremd wie dem OB a.D. Wolfgang Reiniger.