Essen. Das Essener Modell gegen kriminelle Familien macht international Schule. Polizeipräsident zieht erste Zwischenbilanz der einzigartigen Strategie.

Nicht New York, Rio, Tokio, aber Stockholm, Nizza und Den Haag – wenn es um den Kampf gegen die Clankriminalität geht, ist Essen für internationale Behörden inzwischen allererste Adresse. Beamte der „Besonderen Aufbauorganisation Aktionsplan Clan“ (BAO) sind gefragte Botschafter, die den Ordnungshütern und Strafverfolgern in Schweden, den Niederlanden und bald auch in Frankreich erklären, wie die behördenübergreifende Null-Toleranz-Strategie gegen die über Jahrzehnte allzu sehr ignorierten, zum Teil mafiösen Strukturen arabisch-libanesischer Familien im Revier wirkt.

Es hat sich in Europa herumgesprochen, dass Polizei, Stadt, Zoll und Finanzbehörden nach intensiver Zusammenarbeit und der fortgesetzten Politik der tausend Nadelstiche in Essen erste Erfolge vorweisen können. Wobei der Weg zu dem Ziel, die kriminellen Konstrukte möglichst zu zerschlagen, noch einen langen Atem erfordern wird.

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Nach etwas mehr als sechs Monaten der BAO spricht Essens Polizeipräsident Frank Richter von weiteren absehbaren Jahren vehementer regelmäßiger Einsätze, um das Gewaltmonopol gegen die Clans durchzusetzen, die die Staatsmacht regelmäßig missachteten und verhöhnten. Gleichzeitig brauche es einen zunehmenden niederschwelligen Kontrolldruck, um die Szene an ihren Treffpunkten noch stärker zu verunsichern: in Shisha-Bars, Diskotheken, Wettbüros, Imbissen, aber auch auf der Straße bei tausendfachen Kontrollen von Autos, darunter Luxuskarossen, die so gar nicht zu den offiziell angegebenen Einkommen ihrer Insassen passen wollen.

17 Waffen gefunden, über 50 Haftbefehle vollstreckt

Polizeipräsident Frank Richter zieht eine erste Zwischenbilanz zum Kampf gegen Clan-Kriminalität: 50 Mitarbeiter der Polizei Essen/Mülheim befassen sich ausschließlich mit Straftaten von Mitgliedern der Großfamilien.
Polizeipräsident Frank Richter zieht eine erste Zwischenbilanz zum Kampf gegen Clan-Kriminalität: 50 Mitarbeiter der Polizei Essen/Mülheim befassen sich ausschließlich mit Straftaten von Mitgliedern der Großfamilien. © FUNKE Foto Services | Julia Tillmann

Über 20 dieser Autos mit einem Schätzwert von rund einer halben Million Euro wurden in rund einem halben Jahr der BAO genauso sichergestellt, wie drei Kilogramm Rauschgift oder 138 Kilogramm unverzollter Shisha-Tabak, was etwa 14.000 Euro Schaden für den Betroffenen bedeutet. Mehr als 2000 Straf- und Ordnungswidrigkeitsanzeigen wirft die Bilanz zudem aus. 17 Waffen wurden gefunden und über 50 Haftbefehle vollstreckt.

Das alles und noch viel mehr mündete in nahezu 200 Ermittlungsverfahren, von denen sich allein 50 gegen 18 behördenbekannte Intensivtäter richten, deren Delikte gezielt gebündelt werden, um der Justiz eine möglichst komplette kriminelle Vita liefern zu können.

Mehr als 70 Verfahren, in der Hauptsache wegen Körperverletzung, Drogendelikten und Schutzgelderpressung sind bis Anfang Juni auf den Tischen der zwei für Clan-Kriminalität zuständigen Essener Sonderstaatsanwälte gelandet. „Es geht längst nicht mehr nur um Shisha-Bars. Ohne die BAO“, ist Frank Richter überzeugt, „wäre vermutlich vieles an uns vorbeigegangen.“

82 Menschen aus dem illegalen Bezug staatlicher Leistungen abgemeldet

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Womöglich auch der massive Sozialbetrug auf Kosten der Stadt, der bei einer Hausdurchsuchung im Essener Norden aufflog: 82 Menschen, die amtlich gemeldet waren, aber unter der Adresse nachweislich nicht wohnten, konnten aus dem Bezug staatlicher Leistungen abgemeldet werden, weiß Richter. Dies habe der Kommune auf Sicht ungerechtfertigte Ausgaben in Millionenhöhe erspart.

Nicht minder interessante Einblicke in die Geschäftspraxis von Diskothekenbetreibern konnte die Steuerfahndung bei einer Großrazzia mit Innenminister Herbert Reul in der Essener Innenstadt gewinnen: Gäste zahlten offenbar „regelmäßig hohe Beträge“ für einen Tribünenplatz in der VIP-Lounge, ohne dass diese ordnungsgemäß abgerechnet worden sein sollen. Wie hoch die Versteuerung im Nachhinein ausfällt, ist kaum in Erfahrung zu bringen. Doch das Finanzamt wird die Beträge wohl hochrechnen, es drohen empfindliche Nachzahlungen und gegebenenfalls auch saftige Strafen, während die Polizei ein weiteren Schlag gegen die Clan-Kriminalität auf ihrer Habenseite verbuchen kann.

Clan-Mitglieder sollen Autounfälle abgesprochen und provoziert haben

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Mehrere Mitglieder einer Großfamilie stehen seit Februar im Verdacht, Autounfälle provoziert und abgesprochen zu haben, um Versicherungsgelder einzustreichen. Gegen neun Beschuldigte hat das Amtsgericht Durchsuchungsbeschlüsse ausgestellt.

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Welche all dieser Repressalien tatsächlich nachhaltig wirken oder vielleicht auch weniger Eindruck machen, darüber mag man noch streiten, so lange die Ermittlungen laufen und der Großteil der Beschuldigten nicht hinter Schloss und Riegel gelandet ist.

Zumindest aber scheint man in Essen den Nerv einigermaßen zu treffen, stellenweise auch empfindlich. Was vor nicht langer Zeit noch völlig undenkbar war, so Richter, ist inzwischen Realität: Aus den Clans kommen erste Rauchzeichen, sagt der Polizeipräsident. Das Kartell des Schweigens bekommt erste Risse. Zumindest signalisiere man hie und da, sich den Behörden anvertrauen zu wollen.

Auf das Konto zweier bekannter Familien geht jede fünfte Straftat

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Natürlich ahnt die Polizei, dass da eine Krähe der anderen womöglich ein Auge aushacken will, um mit gezielten Hinweisen einem Konkurrenten auf dem kriminellen Markt das Leben noch schwerer zu machen, als es eh schon ist. Doch will Richter diese Signale nicht unterschätzen: „Ich habe Mitarbeiter, die können das durchaus einordnen“, eben Leute, die wissen, dass vor allem zwei Clans – im Lagebild des Landeskriminalamtes O. und E. abgekürzt – das Essener Milieu dominieren, sich gleichzeitig aber alles andere als grün sind. Auf deren Konto gehe immerhin jede fünfte Straftat, so das LKA. Da kann es sich durchaus auszahlen für die Behörden, über Informanten den ein oder anderen Fuß in die Tür der Familien zu bekommen.

So wussten die Ermittler ziemlich früh, dass sich nach einem Gewaltexzess in Altendorf eine libanesische Delegation samt Friedensrichter aus Berlin nach Essen aufgemacht hatte, um eine mutmaßlich schwelende Familienfehde zu schlichten. Die Polizei durchkreuzte die Pläne mit einem Großeinsatz im Essener Nordviertel. „Schlichtet, wo ihr wollt, nicht hier“, habe das geheißen, sagt Frank Richter.

Beamte werden im Dienst verletzt und massiv bedroht

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Es sind diese überraschenden Auftritte der Staatsmacht, aber auch mehrfach in der Woche wiederkehrende Routineeinsätze mit Kontrollen, Kontrollen und nochmals Kontrollen, die das Milieu mürbe machen sollen, aber auch an den Beamten nicht spurlos vorüber gehen. Die Bilanz der Maßnahmen in Zusammenarbeit mit den BAO-Partnern mag durchaus Eindruck machen, lässt aber gleichzeitig erahnen, unter welchem Druck die unter notorischer Personalnot leidenden Essener Polizisten stehen. 320 Gaststätten, Wettbüros oder Bars binnen eines halben Jahres zu überprüfen, dazu über 2000 Personen und Fahrzeuge zu durchsuchen, 140 Verdächtige festzunehmen, um dabei zu erleben, wie vier Vollzugsbeamte durch Widerstandshandlungen im Dienst verletzt, einige weitere verfolgt und bedroht wurden, geht ans Eingemachte.

Auch an das derer, die das Ziel all dieser Anstrengungen sind, Recht und Gesetz ohne Wenn und Aber durchzusetzen: Ein Dutzend Betriebe wurden von den Behörden geschlossen, eine Reihe weitere von den Inhabern aufgegeben, denen die Luft in Essen zu dünn wurde.

Die BAO Clan bindet rund 50 Beamte auf Kosten anderer Abteilungen

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Der personelle Aufwand, nicht zuletzt auf Kosten einiger Abteilungen innerhalb des Polizeipräsidiums, ist entsprechend hoch, ohne dass bei der Kräfteverteilung durch das Land NRW Rücksicht darauf genommen wird, in welchem Umfang in der Clanhochburg Essen mit fast 2500 Straftaten binnen zwei Jahren Beamte zur Bekämpfung dieses Phänomens inzwischen gebunden sind: In der BAO befassen sich laut Frank Richter rund 50 Mitarbeiter exklusiv mit Straftaten, die von kriminellen Mitgliedern von Großfamilien mit libanesischer Zuwanderungsgeschichte begangen werden.

„Wir haben schon eine ganze Menge aufgedeckt“, sagt Richter, für den die BAO inzwischen ein echter Mehrwert und erfolgreicher ist als erhofft, nicht nur, weil es seit fast einem Jahr kein einziges Tumultdelikt auf den Straßen der Stadt gegeben hat, bei dem sich zum Teil Dutzende Scharmützel in aller Öffentlichkeit lieferten.

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Der Polizeipräsident macht jedoch keinen Hehl daraus, dass noch viele weitere Schritte folgen müssen, die intensivste Ermittlungsarbeit mit sich bringen werden: „Das Ziel ist es, an die organisierte Kriminalität heranzukommen“, betont der Polizeipräsident: „Dazu müssen wir substanzielle Verfahren führen können – bis hin zu Verurteilungen.“ An seinen Beamten soll das nicht scheitern. Auch wenn sie einen hohen Preis zahlen – „die sind alle hochmotiviert und geben alles.“

Herr Innenminister, übernehmen Sie!