Düsseldorf . Nirgendwo gehen Großfamilien so unverblümt und gewalttätig ihren dunklen Geschäften nach wie zwischen Essen und Recklinghausen. Eine Analyse.
. Nordrhein-Westfalen hat als erstes Bundesland ein „Lagebild“ zu kriminellen Clans erstellen lassen. Was Innenminister Herbert Reul (CDU) und Thomas Jungbluth, Abteilungsleiter „Organisierte Kriminalität“ beim Landeskriminalamt (LKA), am Mittwoch präsentierten, übertrifft insbesondere im Ruhrgebiet alle düsterste Vorahnungen.
Wieviel Clans gibt es in NRW?
Das Landeskriminalamt hat in den vergangenen drei Jahren 104 Großfamilien identifiziert, denen in diesem Zeitraum 6449 Tatverdächtige und insgesamt 14.225 Straftaten zugeordnet werden können. Das Lagebild zeigt allein zehn besonders aktive Clans, die rund 30 Prozent der erfassten Straftaten begangen haben sollen.
Welche Städte sind besonders betroffen?
Das Ruhrgebiet ist ein absoluter „Hotspot“ der Clan-Kriminalität. Die mit Abstand meisten Straftaten (2439) wurden in Essen begangen, es folgen Gelsenkirchen (1096), Recklinghausen (1091), Duisburg (790), Bochum (782) und Dortmund (703). Bei den Wohnorten der Tatverdächtigen zeigt sich das gleiche Bild.
Wie ticken die Clans?
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Nach Einschätzung von LKA-Ermittler Jungbluth gelten in den Clans zwei eiserne Prinzipien: „Die Ehre der Familie geht über alles.“ Und: „Es gilt das Recht des Stärkeren.“ Sogenannte Ehrverletzungen lösten automatisch das Verlangen nach Wiedergutmachung aus - und zwar nicht auf dem Wege des Rechtsstaats, sondern nach den Regeln der Clans. Der enge Zusammenhalt der Familien verleihe ihnen Sicherheit und Stärke, „ein Verlassen des Clans ist kaum möglich“, so Jungbluth. Wenn es zu Konflikten mit der Polizei kommt, können binnen Minuten Dutzende Familienmitglieder herbei telefoniert werden.
Welche Straftaten begehen Clans?
Über ein Drittel aller Clan-Straftaten sind sogenannte Rohheitsdelikte, also Nötigung, Raub oder gefährliche Körperverletzung. Aber in den vom Landeskriminalamt untersuchten Jahren 2016 bis 2018 wurden auch 26 versuchte oder vollendete Tötungsdelikte aktenkundig. „Clan-Kriminalität ist keine Kleinkriminalität“, sagt Innenminister Reul.
Woher kommen die Clans?
Die meisten Clan-Mitglieder haben libanesische (31 Prozent), türkische (15 Prozent) oder syrische (13 Prozent) Wurzeln, es gibt aber auch eine beträchtliche Zahl an kriminellen Familienbanden mit deutschem Pass (36 Prozent). Überraschend für das Landeskriminalamt: Trotz der patriarchalischen Strukturen der Clans wurden auch 20 Prozent Frauen als Tatverdächtige registriert. Nach LKA-Erkenntnissen sind die heutigen Clan-Chefs häufig als Kinder während des Libanon-Krieges nach Deutschland und dabei insbesondere nach Essen gekommen.
Wie groß sind die Clans?
Nach Schätzungen des LKA bewegen sich die Familiengrößen im drei- bis vierstelligen Bereich. Häufig werde der Einfluss auch über die Verheiratung mit anderen Clans gezielt ausgeweitet. Die Clans setzen sich aus kinderreichen Familien zusammen. Der Nachwuchs verfüge selten über einen (höheren) Schulabschluss, stelle aber höchste Ansprüche an Autos und andere Luxusgüter.
Welche Rolle spielen Mehrfachtäter?
Unter den insgesamt 6449 Tatverdächtigen hat das LKA in drei Jahren 381 Personen registriert, die mindestens fünfmal auffällig geworden sind. Spitzenreiter ist ein 19-jähriger Mann, dem allein 41 Anzeigen zugeordnet wurden. Die Kriminalität der Clan-Mitglieder ist offenbar alterslos: Der jüngste Tatverdächtige war erst zehn Jahre alt, der älteste über 60.
Wie finanzieren sich Clans?
Der Drogenhandel mit Kokain und Cannabis bildet das zentrale Geschäftsfeld vieler Großfamilie. Angehörige dieser Familien seien „über die gesamte Lieferkette“ involviert. Auch der Betrieb von Shisha-Bars habe sich für türkisch-arabischstämmige Clans als „zentraler Faktor“ entwickelt. Wettbüros dienen offenbar als Kontaktbasis und Vorbereitungsraum für Straftaten. Trickbetrug durch Anrufe bei älteren Menschen wird ebenso vermehrt beobachtet. Das illegale Vermögen ist häufig in Immobilien angelegt.
Wo zeigen sich Clan-Mitglieder öffentlich?
Nach LKA-Erkenntnissen sind Clan-Mitglieder bei Security-Dienstleistern oder im Türsteher-Milieu tätig. Auch bei Kampfsportveranstaltung zeigen sich die Familien als Besucher oder Teilnehmer offenbar häufiger.
Warum gibt es erst jetzt ein Lagebild?
„Jahrelang wurden die Hinweise der Bürger, aber auch aus Polizeikreisen zu diesem Problem geflissentlich ignoriert“, sagt Innenminister Reul. Die Furcht, Migrantenfamilien zu stigmatisieren, sei zu groß gewesen. „Keine Lagebild wäre aber keine Lösung“, sagt Reul. Einziges Zugeständnis: Die Namen der Clan-Familien werden nur in anonymisierter Form veröffentlicht.
Wie steuert NRW gegen?
Reul will weiter mit Razzien die Kreise der Clans insbesondere im Ruhrgebiet stören und gleichzeitig die LKA-Spezialisten gegen Familienstrukturen und ihre Geschäftsfelder ermitteln lassen. Die Shisha-Bars seien häufig „nur die freundliche Fassade“ schwerster Kriminalität. „Der Machtdemonstration der Clans müssen wir die Machtdemonstration des Staates entgegensetzen“, forderte Reul.