Essen. . Ulrich Bordt (72) arbeitet ehrenamtlich für das Opfer-Telefon des Weißen Rings. Oft sind die Taten, die ihm berichtet werden, Jahre her.

  • Pensionierter Jurist (72) aus Fischlaken gehört zu den Ehrenamtlichen, die schichtweise am Opfer-Telefon sitzen
  • Die Verbrechen hinterlassen bei den Opfern Spuren, die sie selbst oft erst nach Jahren feststellen – zum Beispiel Angst
  • Auch Gewalt in der Familie und Sexualdelikte gehören zu Fällen, die häufig erstmals ausgesprochen werden

Montags sind es meist sehr viele Anrufe. Immer nach einem Wochenende, denn da kommen die Menschen vermutlich zur Ruhe. „Viele, die sich melden, reden zum ersten Mal mit einem anderen Menschen darüber, was ihnen passiert ist“, berichtet Ulrich Bordt (72) aus Fischlaken.

Er arbeitet seit knapp fünf Jahren ehrenamtlich für das „Opfer-Telefon“ des Vereins „Weißer Ring“. Drei Stunden pro Woche ist er über ein besonderes Handy unter der Zentralnummer 116006 zu erreichen.

Zwischen drei und zehn Anrufen pro Schicht sind es jedes Mal

Pro Schicht sind es drei bis zehn Meldungen. Nicht immer erfolgen die Anrufe aus aktuellem Anlass. „Oft“, berichtet Bordt, „liegen die Taten sehr lange zurück und die Menschen begreifen erst langsam, wie tief sie durch die Tat nicht nur körperlich, sondern auch seelisch verletzt worden sind, und wie heftig die Nachwirkungen sind.“

Da sind die Menschen, bei denen eingebrochen wurde – und plötzlich Hemmungen haben, in ihre Wohnung oder in ihr Haus zurückzukehren, weil sie sich nicht mehr wohlfühlen. „Die Opfer haben plötzlich mit Angst und Verunsicherung zu kämpfen. Es ist, als hätten sie die Bodenhaftung verloren.“

Doch die meisten Delikte, weshalb Menschen aus ganz Deutschland beim „Opfer-Telefon“ anrufen, sind Fälle, in denen es um häusliche Gewalt geht. „Da ist das Tabu am größten, das kann man kaum Anderen erzählen.“ Meistens sind es Frauen, so gut wie jeden Alters, so gut wie aus allen Schichten. „Oft sind es auch ältere Frauen, die Kinder sind längst aus dem Haus, und sie trauen sich, erst dann darüber zu sprechen, dass sie ihr Martyrium über Jahrzehnte ausgehalten haben.“ Wobei es nicht nur um körperliche Gewalt geht, sondern auch um psychische: Herabsetzungen, Demütigungen, Beleidigungen.

Viele Opfer von Sexualdelikten trauen sich nicht, zur Polizei zu gehen

Ein weiterer Schwerpunkt am „Opfer-Telefon“ sind Sexualdelikte. „Viele Frauen scheuen sich, zur Polizei zu gehen, aus Scham und aus Angst vor dem Strafverfahren, das sich anschließt. Dort müssen die dem Täter gegenübersitzen und das ganze Tatgeschehen noch einmal nacherleben. Am Ende müssen sie es womöglich ertragen, dass der Täter mangels Beweisen freizusprechen ist – was sie wiederholt als massive Demütigung empfinden.“

Wie kann man Opfern am Telefon helfen? „Es kommt immer auf den Einzelfall an. Zunächst muss man dem Opfer in Ruhe zuhören, um dann den richtigen Weg aufzeigen zu können.“ Heißt: Konkrete Anlaufstellen zu benennen, an die sich Opfer wenden können. Dazu gehört der Rat, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. „Die Täter bekommen sonst das Gefühl, sie können machen, was sie wollen.“

Helfer am Telefon werden regelmäßig geschult und erhalten Supervision

Weil die Fälle, mit denen die Helfer zu tun haben, sehr tragisch und nur schwer erträglich sind, finden regelmäßige Schulungen und Supervisionen für alle statt. „Das Gefühl, helfen zu können und tatsächlich geholfen zu haben“, ist Bordt eine ausreichende Entschädigung für sein Engagement.

Doch in fünf Jahren seiner Tätigkeit hat der pensionierte Jurist auch Momente des Frustes durchmachen müssen: „Bei Scherzanrufen von Jugendlichen, oder wenn Leute glauben, man sei eine Versicherung und zahlt Geld.“ So käme es tatsächlich hin und wieder vor, dass Menschen anrufen und vorgeben, sie seien bestohlen worden, und dass der Weiße Ring doch bitte für den Schaden aufkommen möge. Oder: Dass verfeindete Nachbarn versuchen, ihre Konflikte aufs Opfer-Telefon auszulagern. In solchen Fällen wiegelt Bordt schnell ab – und macht klar, dass er nicht der richtige Ansprechpartner ist.

>>> DER WEISSE RING SUCHT EHRENAMTLICHE

Der Weiße Ring sucht bundesweit Bürger, die sich ehrenamtlich für das „Opfer-Telefon“ engagieren. Einsatz-Zeitraum ist einmal wöchentlich für drei Stunden zwischen 7 und 22 Uhr. Voraussetzungen: Die Bereitschaft, einmal monatlich beim Gruppentreffen in Essen mitzumachen; außerdem „psychische Stabilität, kommunikatives Geschick und die Fähigkeit, Sachverhalte schnell zu erfassen.“

Weil alle Mitarbeiter die Anrufe zu Hause entgegennehmen, muss dort die Möglichkeit bestehen, ungestört telefonieren zu können. Bewerbungen online auf www.weisser-ring.de; Fragen zum Opfertelefon am besten per E-Mail stellen: opfertelefon@weisser-ring.de