Essen. . Die Gesamtschule Bockmühle in Essen-Altendorf sondert regelmäßig Hilferufe ab. Was passiert dort im Unterricht? Ein Besuch in der Klasse 5c.
- Essens größte Gesamtschule, die Bockmühle in Altendorf, erklärt öffentlich, an der Belastungsgrenze angelangt zu sein
- Das liegt auch an schulpolitischen Vorgaben wie der Inklusion, dem Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderungen
- Nach zwei Stunden im Unterricht möchte man als Reporter am liebsten den Kuli und den Block aus der Hand legen
Nach zwei Schulstunden in der Klasse 5c der Gesamtschule Bockmühle in Altendorf möchte man als Reporter seinen Kuli und Block aus der Hand legen, seine Beobachter-Position ganz hinten im Klassenraum aufgeben und – ja, was möchte man eigentlich?
Helfen, man möchte helfen!
Die Gesamtschule Bockmühle ist Essens größte Gesamtschule. Die Schulleiterin Julia Gajewski macht immer wieder mit deutlichen Worten von sich reden: „Am Rand der Belastungsgrenze“ sei man längst angelangt. Es gebe zu viele Probleme und zu wenig Personal. Bundesweite Beachtung fand vor Wochen ein Radio-Interview mit Julia Gajewski, in dem sie die Zustände ungeschönt beschrieb. Sprachprobleme der Schüler und die Herausforderungen der Inklusion seien nur zu bewältigen, wenn es deutlich bessere Ausstattung materieller, baulicher und personeller Natur gebe, sagte sie. Ansonsten sei das offizielle Motto des Landesschulministeriums – „Kein Kind zurücklassen“ – nichts als purer Hohn.
Nach zwei Stunden Unterrichtsbesuch an der Bockmühle kommt man als Reporter, der selbst vor 25 Jahren das Abi an einem Kleinstadt-Gymnasium machte, aus dem Staunen kaum noch hinaus.
Man möchte helfen, ja. Wem? Nicht dem Lehrer Sven Oliver Freisenhaus (43), der mit stoischer Ruhe und Gelassenheit die 23 Kinder der Klasse durch jeden Tag führt.
Nein, man möchte solchen Jungen helfen wie Hasan oder Mehmet oder Sven oder Jeremy, oder wie auch immer sie heißen – man möchte sie beruhigen. Man möchte ihnen die Hand auf den Rücken legen, und dann möchte man ihnen sagen: „Alles gut, du schaffst das schon. Du musst doch gar nicht so zappeln.“
„Leisezeichen“ hilft dem Lehrer
Wir sind im Werkraum der Gesamtschule, grobe Holztische mit Drehstühlen, die Sitzflächen flach wie Teller ohne Lehne, und, nun ja: Es sind eben Drehstühle. Für zappelnde Kinder eine Einladung, Karussell zu spielen, mitten im Unterricht, begleitet von Johlen und fröhlichen Rufen. Bis irgendwann der erste umfällt.
Sven Oliver Freisenhaus stoppt immer dann, wenn der Geräuschpegel zu laut wird, den Unterricht. Dann hebt er den Arm und wartet darauf, dass alle anderen Kinder ebenfalls den Arm heben, und erst dann, wenn jeder mitgekriegt hat, dass gerade „Leisezeichen“ ist, so heißt das, dann geht der Unterricht weiter. Das „Leisezeichen“ schont Nerven und Stimmbänder der Pädagogen. Es hilft der Klasse, kurz innezuhalten, damit der Unterricht weitergehen kann. An vielen Schulen wird so verfahren.
Im Werkunterricht geht es heute um die Handhabung einer Tischbohrmaschine. Die Kinder haben Arbeitsblätter vor sich liegen, man sieht Piktogramme, die zeigen, wie Menschen an der Tischbohrmaschine sich fahrlässig verhalten – ein Mädchen zum Beispiel, das mit offenen Haaren am Gerät hantiert. In die linke Spalte auf dem Papier sollen die Schüler die drohenden Gefahren notieren, rechts mögliche Schutzmaßnahmen, die helfen könnten. Ahmed, der noch keine drei Jahre in Deutschland ist, hat das Prinzip des Arbeitsblattes sofort verstanden und bringt Beispiele: „Zum Beispiel, dass die Haare fest verbandet sind“, sagt er, „und dass man Schutzbrille tragt.“
Der Junge sagt „verbandet“ statt „verbunden“
Er sagt „verbandet“ statt „verbunden“, und er sagt „tragt“ statt „trägt“. Trotzdem, man muss die Umstände berücksichtigen: „Sehr gut, Ahmed“, lobt der Lehrer. Ahmed ist eines der intelligentesten Kinder der Klasse. Seine persönliche Tragik: Weil Ahmed länger als zwei Jahre hier ist, hat er keinen Anspruch mehr auf einen Kurs „Deutsch als Fremdsprache“. Der reguläre Unterricht plus Förderprogramme der Schule müssen reichen.
Die reguläre Stellenbesetzung – ein Lehrer pro Klasse plus wenige Stunden pro Woche ein Sonderpädagoge – muss auch reichen im täglichen Umgang mit den chronischen Störern, die erkennbar am Zappelphilipp-Syndrom leiden.
Nicht alle Schüler schaffen es, am Ende der Stunde das Arbeitsblatt richtig abzuheften. Viele haben in 60 Minuten die Spalten nicht ausgefüllt, sich stattdessen immer wieder am Rande leise unterhalten – über Handys oder Pizzasorten, und viele gucken lange Zeit einfach auch nur Löcher in die Luft. „Graue Inklusion“ nennt die Schulleiterin das: Schüler mit offensichtlichen Handicaps werden genau so unterrichtet wie die anderen, ohne, dass ihr besonderer Förderbedarf jemals offiziell festgestellt worden wäre. Und dann entsprechende Maßnahmen eingeleitet worden wären.
Die konzentrierten Schüler
Selbstverständlich gibt es auch die anderen, die konzentrierten. Mädchen leiden ganz offensichtlich viel weniger an Defiziten und Konzentrationsstörungen, schreiben in kringeliger Mädchenschrift ordentlich auf, was verlangt wird, und in den Selbstlern-Phasen, die die Schule flächendeckend eingeführt hat, sind sie es, die zuerst mit den Aufgaben fertig sind und noch Zeit für mehr haben.
Dies ist eine von acht fünften Klassen der Gesamtschule Bockmühle in Altendorf. Und jetzt kommt, etwas salopp gesagt, der Hammer: Diese Schule verlassen jedes Jahr rund 60 bis 70 junge Erwachsene mit dem Abitur. Der allgemeinen Hochschulreife! Keinem geschenkten Abi für Schulen in sozialen Brennpunkten, sondern dem regulären Zentral-Abi, das für alle Schüler in NRW gleich ist. Unter diesen Umständen ist es von Klasse fünf bis 13 ein Weg, der unendlich weit erscheint, nein: unmöglich. Zumindest jetzt, in Klasse fünf.
Das Abi wird einem auch an der Bockmühle nicht geschenkt
Erst diese Erkenntnis lässt einen erahnen, welch unglaublich schwere Arbeit an dieser Schule täglich geleistet wird. Von Schülern, Lehrern, Bediensteten. Es profitieren nicht nur jene, die es ganz bis zum Schluss schaffen. Sondern auch die Mehrheit der Schüler, die mittlere Abschlüsse hinkriegen, was ja auch schon viel ist. Hier, in Altendorf, an der Bockmühle, an Essens größter Gesamtschule.
>> DIE VIELEN PROBLEME DER GESAMTSCHULE BOCKMÜHLE
Die Gesamtschule Bockmühle wurde als erste Gesamtschule in Essen errichtet. Das war 1972.
Der hohe Anteil an Migranten unter der Schülerschaft ist nicht das Problem, sondern Bildungsferne auch unter deutschen Familien, Armut, Verwahrlosung, ungezügelter Medienkonsum.
Auch die „Inklusion“, der gemeinsame Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderung, ist eine Herausforderung. Die Schulleiterin Julia Gajewski geht davon aus, dass heute jeder Schüler im fünften Jahrgang der Schule Förderbedarf in Sachen Sprache hat.
Baulich ist die Schule in einem miserablen Zustand. Fenster sind kaputt und Treppen wegen Einsturzgefahr gesperrt.