Essen. . Jugendkammer des Landgerichts Essen verkündet am Dienstag Urteil gegen mutmaßliche Tempelbomber. Sikh-Gemeinde ist immer noch traumatisiert.
- Mutmaßliche Salafisten verübten am 16. April 2016 einen Sprengstoffanschlag auf den Essener Sikh-Tempel.
- Dabei wurden der Priester der Gemeinde so schwer verletzt, dass er sich heute nur mit Gehilfen bewegen kann
- Die Jugendkammer des Landgerichts Essen verkündet an diesem Dienstag das Urteil gegen drei Angeklagte
Der wohlige Geruch von frisch gebackenem Brot, Reis und schwarzem, mit Nelken und Fenchel gewürzten Milchtee durchströmt Montagmittag den Sikh-Tempel auf der Bersonstraße. Die Gläubigen bewegen sich barfuß zwischen Speiseraum und Gebetssaal.
Es ist eine ungezwungene Atmosphäre, die meisten Männer tragen einen Turban, einige ein orange farbenes Dreieckstuch. Eine Trennung nach Geschlechtern gibt es im Gotteshaus der Essener Sikh-Gemeinde, Gurdwara genannt, nicht. Man isst und trinkt, plaudert und betet.
Ihr Gurdwara verkörpert ein Stück Heimat in der Fremde. Eine heile Welt, die vor bald einem Jahr durch einen Knall jäh erschüttert wird. Es ist der 16. April 2016, ein Samstag, als zwei mutmaßliche, 17 Jahre alte Salafisten um 19 Uhr einen sprengstoffgefüllten Feuerlöscher in das Gotteshaus schleudern.
Die New York Times berichtet auf der Titelseite
Drei Menschen werden verletzt, einer, der Priester, schwer. Es ist ein Terroranschlag, über den das indische TV in den Hauptnachrichten und die New York Times auf der Titelseite berichten werden.
„Es war ein ohrenbetäubender Knall“, erinnert sich Geschäftsführer Minder Singh. Der Mann mit dem blauen Turban und dem langen Bart, 61 Jahre alt und seit 30 Jahren in Deutschland, erinnert sich selbst an die kleinsten Details dieses Bombenanschlags.
An jenem Samstag feiert die Gemeinde gerade eine Hochzeit, noch immer halten sich 100 Menschen in der umgebauten Druckerei auf. „Nur eine Minute vor der Explosion standen wir mit 35 bis 40 Kindern genau an der Tür, gegen die die Bombe geworfen wurde.“
Die Kinder wollen den drei Vorstandsmitgliedern Minder, Amrik und Sarbjit Singh endlich die einstudierten Lieder vorsingen. Doch sie werden gebeten, dafür in die oberen Räume zu gehen. „Was für ein Glück“, sagt Singh heute.
Blutspuren im Teppichboden
Dafür trifft es Koldib Singh, den Priester, der gerade vor die Eingangstür tritt. „Durch die Wucht der Explosion wurde er in die Mitte des Gebetssaals geschleudert.“ Es ist stockfinster, der Strom fällt aus, Gardinen fangen Feuer und der stark blutende Priester schleppt sich in einer Staubwolke zum Altar, der ebenfalls beschädigt ist.
Singh deutet auf den Teppichboden, mit dem der 230 Quadratmeter große, nur spärlich geschmückte Saal ausgeschlagen ist. „Sehen Sie, das sind seine Blutspuren.“
Sikhs loben Essener Feuerwehr und Polizei
Oben in der weißen Deckenverkleidung stecken immer noch Eisen- und Glassplitter. „Auch unser Priester war voller Eisen- und Glassplitter, von den Füßen bis fast zur Hüfte.“ Unter den Folgen des Anschlags leide er noch heute. „Er braucht zum Gehen einen Stock und hat starke Schmerzen.“
Heute verdeckt ein Teppich die Spuren, die die gesäuberte Blutlache hinterlassen hat. Eine makabre Erinnerung.
Den Priester schleppen sie rasch in den Essraum. Und die Kinder? „Aus Angst vor weiteren Explosionen haben wir sie ins Freie gebracht.“ Schon nach zehn Minuten treffen Feuerwehr und Polizei ein. „Sie haben einen tollen Job gemacht.“
„Die Kinder weinen immer noch, und einige Männer auch“
Der Schaden, der mit 120 000 Euro beziffert wird, lasse sich reparieren, sagt Minder Singh, „aber der Schaden an unserer Seele nicht“. All jene, die den Anschlag erlebt haben, seien heute traumatisiert. „Die Kinder weinen immer noch, und einige Männer auch.“ Minder Singh hat sich in die Obhut eines Therapeuten begeben. „Trotzdem werde ich nachts aus dem Schlaf gerissen.“
An diesem Dienstag wird die Jugendkammer des Landgerichts Essen das Urteil gegen drei Angeklagte verkünden: Mohammed B. aus Essen, Yusuf T. aus Gelsenkirchen und Tolga I. aus Schermbeck – drei im Ruhrgebiet aufgewachsene Salafisten, die sich, wie man inzwischen weiß, quasi im Kinderzimmer radikalisiert haben.
Yusuf T., neben Mohammed B. einer der beiden mutmaßlichen Tempelbomber, schreibt Monate später eine Entschuldigung. „Aber wir akzeptieren sie nicht, weil sie nicht glaubwürdig ist“, betont Singh. Auch Yusufs Mutter habe sich persönlich entschuldigen wollen. Auch dies habe man abgelehnt.
Anklage wertet die Tat als versuchten Mord
Nur ein paar Schritte weiter auf der Bersonstraße befindet sich die Alfaruk-Moschee. „Zu ihnen gehen wir auf Distanz, man sagt sich knapp ‘Hallo’ oder auch nichts.“ Die Sikhs sind stolze, gottesfürchtige Leute, aber nicht streitlustig. Ärger wollen sie aus dem Weg gehen.
Am Vorabend der Urteilsverkündigung reden sie auch nicht von Rache und Hass, sondern davon, dass sie großes Vertrauen in die deutsche Justiz haben. Die Anklage wertet die Tat des Trios als „versuchten Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, Herbeiführen einer Explosion und gemeinschädlicher Sachbeschädigung“.
Minder Singh erinnert an die Verletztheit der Sikhs. „Unser Gebetshaus ist unsere Seele, und auch unser Priester wurde verletzt.“ Den Angeklagten wünschen sie nach der Verurteilung, dass sie die Kraft finden, umzukehren und ein besseres Leben zu führen.
Draußen auf dem Hof stehen – einer Mahnung gleich – immer noch zwei kaputte Schubkarren voller Scherben. Der zerbombte Eingang ist nur provisorisch mit Holztafeln dichtgemacht. „Wir erwarten ein gerechtes Urteil“, sagt Minder Singh. Gott wisse schon, was gut und böse sei.