Essen-Heisingen. . In Heisingens Mitte lässt sich die frühere landwirtschaftliche und industrielle Nutzung nachvollziehen. Ein Besuch auf der Bahnhofstraße.
„Das Erstaunliche der Bahnhofstraße ist“, sagt Ilse Cram und ihre Lach-Fältchen hüpfen vor Freude, „dass sie keinen Bahnhof hat“. Die Straße, die Heisingen von der Lanfermannfähre am Baldeneysee bis zum Kreisverkehr im Zentrum genau mittig trennt, ist bis heute stiller Zeuge des Wandels von der Bauernschaft zur aufstrebenden Industrieregion und schließlich zum beliebten Stadtteil für Familien, der Heisingen heute ist.
Aus Sicht von Heimatforscherin Ilse Cram ist die Geschichte der Bahnhofstraße dabei mit einigen architektonischen „Sünden“ verbunden: „Viele wunderschöne, alte Häuser und Höfe sind hier in der Nachkriegszeit völlig ohne Not durch zweckmäßige Gebäude ersetzt worden. Da blutet mir bis heute das Herz, wenn ich alte Bilder betrachte“, sagt die 85-Jährige, die sich im Museumskreis Heisingen engagiert und das Heimatmuseum im Paulushof mit aufgebaut hat.
Die letzten Höfe verschwanden 1955
Die Bahnhofstraße entstand im März 1877 im Zuge des Aufschwungs von Kohle und Stahl an der Ruhr. Die 1872 in Betrieb genommene Ruhrtalbahn brachte die Bergleute in Scharen nach Heisingen; vor allem zur Zeche Carl Funke, der bis zur Stilllegung 1973 größten Arbeitgeberin des Stadtteils. Als Verbindung ebenfalls bedeutend war die heute gastronomisch genutzte Lanfermannfähre, die die Heisinger zur anderen Seeseite brachte.
Die Jahrhunderte zuvor war das Gebiet der heutigen Straße lange bestimmt von großzügigen Höfen und Bauernhäusern. „Ein kleiner Stichweg, der früher genutzt wurde, um das Vieh zum Weiden an die Ruhr zu treiben, hieß ,Kuhsiepen’. Er markierte auch den Beginn der heutigen Bahnhofstraße“, weiß Ilse Cram.
Die Bahnhofstraße in Heisingen
Eine große Tafel in der Dorfmitte erinnert bis heute an die Höfe, darunter den Alterssitz des Gatherhofs, der noch immer erhalten ist. „In dieser so genannten Leibzucht wohnten die Eltern, wenn die Kinder den Hof übernahmen“, sagt Ilse Cram.
Bahnhofstraße verbindet Ober- und Unterdorf
Damals gliederte sich Heisingen in ein Oberdorf mit elf und ein Unterdorf mit zwölf Höfen – die Bahnhofstraße verbindet beide Teile bis heute. Die Landwirtschaft aber ist lange schon kein Teil mehr von Heisingen – 1955 gaben die letzten beiden Bauern auf und verkauften ihr Land für den Wohnungsbau.
Ilse Cram ist davon überzeugt, dass der große Mix aus Landwirtschaft, Industrie und Wohnen Heisingen früher lebendiger hielt, „hier war schon mal mehr los“, sagt die Rentnerin, die 1963 der Liebe wegen nach Heisingen zog. Zum Beleg zeigt die Lokalpatriotin Bilder früherer Auflagen der „Wottelkermes“. „Da war kein Durchkommen auf der Bahnhofstraße, da stand hier sogar ein Riesenrad“, erinnert sich Ilse Cram an frühere Auflagen der Traditionsveranstaltung, mit der die Heisinger bis heute die Möhre feiern, in rheinischem Platt „Wottel“ genannt.
In der Jugendhalle fanden früher Feste und Wettkämpfe statt
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Während sich der untere Teil der Bahnhofstraße Richtung See im Laufe der Jahrzehnte zum reinen Wohngebiet entwickelte, war das Oberdorf rund um den Kreisverkehr, in dem Bahnhof-, Schang- und Heisinger Straße zusammenkommen, schon immer geschäftiges und gesellschaftliches Zentrum des Stadtteils. Ein Beispiel dafür ist die denkmalgeschützte und über 100 Jahre alte Jugendhalle, wo früher Feste und Sportwettkämpfe stattfanden und die heute von der Georg-Grundschule genutzt wird.
Auch die Traditionsadresse Bahnhofstraße 1 ist bis heute im Original erhalten: In dem typisch bergischen Schieferhaus findet sich heute der Weinladen „Korkenzieher“. „Das war früher ein ganz normales Wohnhaus, in dem übrigens nicht – wie viele denken – der Bürgermeister, sondern ein Maler gewohnt hat“, sagt Ilse Cram. Im kleinen Anbau nebenan, dem „Heisinger Kaffeestübchen“, serviert Martina Schwede selbst gemachten Kuchen und andere Spezialitäten.
An anderer Stelle hingegen sind Traditionshäuser verschwunden: Der Bürgerkrug etwa, der schon 1900 an der Bahnhofstraße 29 als Gaststätte errichtet wurde, steht seit Jahren leer, ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Ilse Cram ist aufgeschlossen und offen für alles Neue, dennoch plädiert sie für einen sensibleren Umgang mit dem steinernen Erbe der Vergangenheit: „Heisingen würde heute anders aussehen, wenn die Stadtplaner behutsamer vorgegangen wären.“