Essen. Ein Mann soll sich einer Frau am Bahnhof in Kettwig unsittlich genähert haben. Schnell wird daraus ein Verdacht gegen ein Asylheim. Zu Unrecht.
- Rasend schnell verbreitet sich das Gerücht, am S-Bahnhof Kettwig habe es sexuelle Belästigung gegeben
- Politikerin gießt Öl ins Feuer, indem sie das Gerücht ausschmückt und seriöse Medien wegen angeblichem Wegschauen beschimpft
- Polizei gibt eine denkbar einfache Aufklärung: Es handelte sich um einen Wildpinkler
Der Kettwiger Thorsten L. (Name von der Red. geändert) versteht die Welt nicht mehr. „Ich habe nur die Polizei gerufen. Was dann auf Facebook damit passiert ist, finde ich ganz furchtbar und widerlich. Dass Leute diesen Vorfall missbrauchen, um gegen Flüchtlinge zu hetzen.“
Worum geht es? Sonntagabend steht Thorsten L. am S-Bahnhof in Kettwig und wartet im Auto auf seine Freundin. Die kommt aufgeregt aus der Unterführung auf ihn zugelaufen. Ein Mann habe mit entblößtem Geschlechtsteil am Bahnsteig gestanden und sie angesprochen, erzählt sie. L. geht zurück, findet den Mann und spricht ihn an. „Er hat nichts gesagt. Daraufhin habe ich ihm gesagt, er soll bleiben und habe die Polizei gerufen.“
Polizeieinsatz am Bahnhof Kettwig erregt Aufmerksamkeit
Als wenige Minuten später zwei Einsatzwagen mit vier Beamten am S-Bahnhof eintreffen, erregt das selbstredend die Aufmerksamkeit von Passanten und Fahrgästen am gegenüberliegenden Bahnsteig.
„Einer hat ein Handy in die Richtung gehalten“, kann sich der Kettwiger gut erinnern. Die Beamten nehmen den Vorfall auf. L. braucht keine Anzeige zu erstatten.
„Der Täter war augenscheinlich kein Flüchtling“, wird er am nächsten Tag in die Facebook-Gruppe „Kettwig intern“ schreiben. Dort und in weiteren sozialen Medien hatte sich die Nachricht von dem Vorfall rasch verbreitet. Die am S-Bahnhof gelegene neue Unterkunft für Flüchtlinge rückt in den Mittelpunkt von Meinungs- und Stimmungsmachern. Selbst eine Essener Ratsfrau mischt mit.
Ratsfrau gießt mit einer Behauptung Öl ins Feuer
Elisabeth van Heesch-Orgaß, Ratsfrau der Bürgerlich-Alternativen Liste (BAL), schreibt unter dem Titel „Das Schweigen der Essener Lokalpresse: Sexuelle Belästigung in Kettwig“, dass sich vor den Augen einer Frau ein Mann am Sonntagabend am Alten Bahnhof Kettwig entblößt und onaniert habe. Diesen Täter beschreibt sie in ihrem Post ebenfalls: „Es handelte sich um einen Marokkaner, der als Asylantragsteller in Kettwig in der neuen Unterkunft neben dem Alten Bahnhof untergebracht ist.“ Dies sei schlimm für alle Frauen, die „sich wie gewohnt frei und ohne Bedenken in Kettwig und überall bewegen möchten.“
„Ich habe nie gesagt, dass er aus der Flüchtlingsunterkunft war oder das auch nur vermutet. Das hatte ich zu keinem Zeitpunkt behauptet, auch nicht bei der Polizei“, schreibt L. in der Facebook-Gruppe und bestätigt dies gegenüber dieser Zeitung. Der Kettwiger berichtet, dass seine Freundin nicht nur aufgrund des Vorfalls total verängstigt sei, „sondern weil wir jetzt auch Anfeindungen ausgesetzt sein könnten. Der ganze Rummel – um so gut wie nichts.“
In der Tat: Es handelt sich allenfalls um eine Ordnungswidrigkeit „Tatsache ist: Es hat jemand in der Nähe der S-Bahn uriniert. Offenbar konnte er mit seiner Notdurft nicht mehr einhalten“, stellt Polizei-Sprecher Peter Elke klar. „Der Vorfall hat aber nichts mit dem Flüchtlingsheim oder seinen Bewohnern zu tun.“ Leider komme es immer häufiger vor, dass „Bürger sich in den sozialen Medien informieren anstatt in der Realität.“ Falschmeldungen wie diese kursierten fast täglich im Netz – oft ungefiltert und als Basis für fremdenfeindliche Äußerungen.
BAL-Ratsfrau Elisabeth van Heesch-Orgaß hat das Posting im Übrigen inzwischen gelöscht – ohne eine Richtigstellung.