Essen. Thomas Kufen über seine Reise in den Norden Iraks, über Hilfe vor Ort und das mulmige Gefühl, seine Kleidergröße für die Splitterweste preiszugeben.

Oberbürgermeister Thomas Kufen über seine Reise in den Norden Iraks und zerstobene Blütenträume, über Hilfe vor Ort und das mulmige Gefühl, seine Kleidergröße für die passende Splitterweste preiszugeben.

Herr Kufen, wenn dieses Interview erscheint, sind Sie auf dem Weg in den Norden Iraks. Ein langes Wochenende im Flüchtlingsland – wie kam es dazu?

Thomas Kufen: Die Flüchtlingskrise beschäftigt uns in Essen tagaus tagein, und wir wissen doch alle: Das Beste wäre, wenn wir den Menschen in ihren Herkunftsländern eine Perspektive bieten. Dann bräuchten wir uns über Unterbringung und Integration hierzulande keine Gedanken zu machen. Die effektivste Hilfe können wir vor Ort geben, und da sehe ich als Oberbürgermeister der neuntgrößten Stadt Deutschlands meine Verpflichtung darin, Flagge zu zeigen.

OB Kufen will verstehen: „Warum kommen die Menschen?“

Mit Ihnen reist Sozialdezernent Peter Renzel. Was hoffen Sie beide vor Ort zu lernen, was Sie als Fachleute – Sie waren ja selbst mal Integrationsbeauftragter des Landes NRW – nicht ohnehin schon wissen?

Kufen: Es geht darum herauszufinden, welche Hilfestellung wir geben können. Aber auch darum, dass ich als Oberbürgermeisters dafür werben möchte, dort mehr Unterstützung zu leisten. Eigentlich müsste doch jeder, der in seiner unmittelbaren Nachbarschaft kein Flüchtlingsheim haben möchte, potenzieller Spender für solche Aktivitäten sein. Ich glaube, dass wir da aus Essen heraus noch mehr tun können. Das Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet, das ich am Samstag besuche, ist solch ein tolles Projekt.

Ist das am Ende nicht auch eine Reise unter dem Motto: Kommt bitte nicht alle nach Deutschland?

Will Flagge zeigen für mehr Hilfe in den Herkunftsländern der Flüchtlinge: Oberbürgermeister Thomas Kufen.
Will Flagge zeigen für mehr Hilfe in den Herkunftsländern der Flüchtlinge: Oberbürgermeister Thomas Kufen. © WAZ

Kufen: Mit Sicherheit auch. Aber ich will vor allen Dingen verstehen: Warum kommen die Menschen denn? Weil sie keine Perspektive haben, weil sie nicht genug zu essen haben, weil sie nicht wissen, wo ihre Kinder zur Schule gehen sollen. Gerade aus dem Ruhrgebiet heraus entstehen jetzt Initiativen zum Bau von Schulen, von Bäckereien, von Ausbildungseinrichtungen. Das möchte ich gerne unterstützen, auch nachhaltig. Denn wir werden hier nicht alle aufnehmen können.

Zumal das Misstrauen wächst und die Kritik am Aufwand für Flüchtlinge. Da liegt die Frage nahe: Wer bezahlt Ihre Reise?

Kufen: Ich bezahle meine Reise selbst.

„Nicht durch Bilder in sozialen Medien täuschen lassen“

Als Reflex nach dem Motto: keine Angriffsfläche bieten, nicht noch Öl ins Feuer gießen?

Kufen: Nein, es war mein persönlicher Wunsch zu fahren. Den musste ich auch erstmal mit meiner eigenen Familie klären. Denn wenn man plötzlich seine Blutgruppe angeben muss, den Kopfumfang für einen Helm und die Kleidungsgröße für Splitterwesten, dann ist, glaube ich, jedem klar: Das wird kein Sonntagsspaziergang. Dass im Übrigen der zuständige Dezernent mitfährt und wir als Stadt dessen Kosten tragen, halte ich für eine Selbstverständlichkeit.

Wenn Sie in jene Region reisen, aus der die meisten hierzulande eintreffenden Flüchtlinge kommen – was bringen Sie denen als Botschaft über die Asyllage in Essen, in NRW, in Deutschland mit?

Kufen: Dass sie sich durch das Fernsehen und die Bilder aus den sozialen Medien nicht blenden lassen sollten. Der Wohlstand, den wir hier haben, muss hart erarbeitet werden. Viele Blütenträume über mitgebrachte Qualifikationen verpuffen schnell, das war bei Ihnen ja auch nachzulesen. Außerdem will ich unmissverständlich deutlich machen, wie sich die Unterbringungs-Situation darstellt. Hier landen Flüchtlinge in Turnhallen, in Zelten – das ist weit weg von dem, was Schlepper-Organisationen manchem versprechen: mit Haus und Auto und Vollversorgung. Aber diese Erfahrung machen wir in Essen genauso wie im Irak und auf den vielen Kilometern dazwischen: Es gibt Menschen, die versuchen, mit den Ärmsten der Armen noch ein Geschäft zu machen.

Die Blütenträume sind ja nicht nur bei manchem Flüchtling zerstoben, sondern auch bei denen, die ihnen hier helfen wollten und noch wollen.

Kufen: Ja, klar. Mir fällt da ein Zitat von Manfred Stolpe ein, dem späteren Ministerpräsident Brandenburgs, als es um die Aufnahme der DDR-Flüchtlinge ging: „Wir träumten vom Paradies – und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.“ Aber ich sage auch: Niemand verlässt leichtfertig seine Heimat, seine Familie und macht sich auf den Weg. Das ist ein Prozess der Abwägung in einer Situation, in der ich nicht stecken möchte. Wahrscheinlich würde ich mich genauso verhalten wie viele Hunderttausende, die entweder schon gegangen sind oder mental auf gepackten Koffern sitzen. Selbst die schärfsten Gegner der Aufnahme von Flüchtlingen geben ja zu, dass sie sich in dieser Situation im Zweifel wohl genauso verhalten würden.

Provinz Dohuk träumt von Städtepartnerschaft mit Essen

Die Provinz Dohuk, in der das Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet liegt, träumt von einer Art Städtepartnerschaft mit Essen. Hat das Chancen?

Kufen: Informell ist das Angebot schon bei mir angelangt. Ich habe zwar signalisiert, dass wir sehr wohl auf allen möglichen Gebieten helfen und Kontakte wie Spenden vermitteln wollen. Aber ich glaube, den Menschen vor Ort ist nicht sonderlich geholfen, wenn wir gemeinsam ein Papierchen unterschreiben und sagen: Jetzt sind wir Partnerstadt.

Hierzulande ist derzeit Durchatmen angesagt. Nicht, weil wir in Essen keine Flüchtlinge mehr aufnehmen – die Stadt muss ja aus 2015 noch Verpflichtungen erfüllen – , sondern weil nicht noch zusätzlich weitere Massen strömen. Ist das schon der Abschied vom Krisenmodus, den Sie sich erhofft haben?

Kufen: Mit unseren Beschlüssen von Februar haben wir einen entscheidenden Schritt nach vorn gemacht, aber aus dem Krisenmodus sind wir noch nicht heraus, das sieht man Tag für Tag im Bürgeramt, im Ausländeramt oder im Sozialamt. Da leisten unsere Mitarbeiter ganz großartige Arbeit, manchmal – das müssen wir uns eingestehen – über ihre physischen und psychischen Kräfte hinaus: Der Krankenstand dort ist besorgniserregend. Wir haben zwar zugesagt, neues Personal einzustellen. Aber die Mitarbeiter, um die wir heute werben, sind ja morgen noch nicht einsetzbar.

250 Jobs sind beschlossen, viel zu wenig, sagt der Personalrat. Wann werden wenigstens die alle im Einsatz sein?

Kufen: Wir hoffen, dass wir das bis Jahresende gestemmt kriegen. Wobei wir an anderer Stelle sehr wohl merken, wie wir im Wettbewerb stehen. Andere Städte werben gut ausgebildete Fachkräfte aus der Essener Stadtverwaltung gezielt ab, stellen eine Höherbewertung ihres Jobs oder die Verbeamtung in Aussicht. Wir haben uns unter meinem Vorgänger im Amt ja aus der Verbeamtung verabschiedet, aber für mich ist das kein Tabu, wenn es uns damit gelingt, gute Fachleute zu halten.

Zeichen der Flüchtlingskrise in Essen – oder man möchte fast sagen: exklusives Zeichen – ist die Unterbringung in Zelten. Über 3000 Menschen leben dort. Wann ist dieses traurige Kapitel beendet?

Kufen: Sieben von zehn Zelt-Mietverträgen laufen 2016 aus, und wir arbeiten mit Hochdruck daran, dass kein einziger verlängert werden muss. Wir können sowohl aus humanitären Gründen wie aus finanziellen nicht einen einzigen Vertrag verlängern. Das werde ich auch nicht tun.

In der Hoffnung, dass nach der Krise nicht vor der Krise ist?

Kufen: Ja, ich denke dass das Jahr 2015 mit bundesweit einer Million aufgenommenen Flüchtlingen eine Ausnahme darstellt. Das hat, glaube ich, jeder in Brüssel, Berlin und Düsseldorf verstanden. Wir haben allzu oft den Kopf dafür hingehalten. Dazu sind wir nicht mehr bereit.

Das Gespräch führte Wolfgang Kintscher

600.000 Euro Spenden für das Flüchtlingsdorf NRW

In der kurdischen Autonomieregion im Nordirak leben derzeit etwa 2,3 Millionen Flüchtlinge – 230.000 von ihnen stammen aus Syrien, die Übrigen sind Binnenvertriebene aus verschiedenen Regionen des Irak.

Das Camp Mam Rashan liegt nahe der Kleinstadt Sheikhan, eine Autostunde entfernt von der Provinzhauptstadt Dohuk. Hier hat die Caritas Flüchtlingshilfe Essen Anfang 2015 begonnen, Spenden für den Aufbau eines Flüchtlingsdorfes NRW innerhalb des Camps zu sammeln.


Bislang konnten für das Projekt rund 600.000 Euro an Spenden eingeworben werden – Essener Unternehmer sind genauso darunter wie Kirchengemeinden, Schulklassen und Einzelpersonen. Dafür wurden 70 Wohncontainer à 30 Quadratmeter errichtet, in denen rund 400 Menschen ein Obdach fanden. Außerdem entstand eine Bäckerei. Mehr Infos: www.fluechtlingshilfe.com