Essen. Die SPD-Spitze mag glauben, sich mit Guido Reil eines Problems entledigt zu haben. Tatsächlich hat sie sich ins eigene Fleisch geschnitten. Ein Kommentar.

Frank Stenglein, Leiter der WAZ-Lokalredaktion Essen, kommentiert Guido Reils Austritt aus der SPD.
Frank Stenglein, Leiter der WAZ-Lokalredaktion Essen, kommentiert Guido Reils Austritt aus der SPD. © WAZ FotoPool

Mediale Berühmtheit, vor allem wenn sie TV-gestützt ist, hat ihre Tücken. Das gilt umso mehr, wenn man sie im Bewusstsein erlangt, gegen den Willen von Partei-Eliten unbequeme Meinungen ausgesprochen zu haben und dafür viel Beifall erhalten hat. Es braucht dann die Gabe, sich selbst gut zu kontrollieren, Fallstricke zu umgehen, Chancen und Risiken kühl abzuwägen, Gefühle nicht ins Kraut schießen zu lassen. Und schließlich muss auf Protest – so berechtigt er ist – solide politische Arbeit folgen. Zur Tragödie von Guido Reil, dem SPD-Ratsherrn aus Karnap, gehört, dass er in all diesen Punkten Schwächen hat und dass er seinen innerparteilichen Gegnern damit die Angriffswerkzeuge in die Hand drückte. Am Mittwochabend tat ihnen der Steiger von Prosper-Haniel dann noch einen letzten Gefallen und trat entnervt aus der SPD aus, der er 26 lange Jahre angehörte.

Es war der vorläufige Endpunkt einer Kette von Fehlern. Denn mit dem Austritt hat sich Guido Reil selbst aus dem Spiel genommen. Seine Wirkung erzielte er, weil er ein Traditions-Sozialdemokrat alter Schule war, weil er viele an eine SPD erinnerte, die gerade im Ruhrgebiet die Gefühle und Lebenswelten der Bürger in hohem Maße erreichte. Mag dabei auch viel Nostalgie und die Sehnsucht nach einfachen Antworten gewesen sein, mag der unaufhaltsame ökonomische Wandel ausgeblendet werden: Bodenständige Lokalpolitiker wie Reil können dennoch auch heute noch Menschen binden und eine konstruktive Rolle spielen – und zwar gerade bei der Abwehr radikaler Elemente.

SPD-Spitze hat sich ins eigene Fleisch geschnitten

Dazu aber muss zum Gefühl die abwägende Vernunft kommen. Schon die Kandidatur als stellvertretender Vorsitzender beim Parteitag vergangenen Samstag war irrational, weil es nicht den Hauch einer Chance gab. Wer etablierte Parteien kennt, weiß, wie das läuft: Berufspolitiker, die viel Zeit und viel zu verlieren haben, kneten unsichere Kantonisten unter den Delegierten so lange, bis das Stimmverhalten genehm ist. Reil und seine Freunde hatten weder die Zeit noch die Organisation noch das Argumentationsgeschick, um den Profis in dieser Hinsicht etwas entgegen zu setzen. Als Parteiromantiker, der er wohl ist, wollte Reil die Zuneigung der SPD dann erzwingen, was schiefgehen musste.

Dass überhaupt noch über 20 Prozent der Delegierten für ihn stimmten und sich somit der Seelenmassage des Partei-Establishments entzogen, ist aber ein klares Signal, dass die Unzufriedenheit in der SPD mit dem Abgang Reils noch lange nicht beendet ist. Das nämlich ist der zweite Teil der Tragödie. Die Essener SPD-Spitze mag glauben, sich mit Reil eines Problems glücklich entledigt zu haben. Tatsächlich aber hat sie sich ins eigene Fleisch geschnitten, was schwer begreiflich ist für eine Partei, die unter Druck ist wie nie seit 1945. Es war verräterisch, mit welcher Kühle der neue Vorsitzende Thomas Kutschaty beim Parteitag die klassische Arbeiterschaft zur vernachlässigbaren Größe erklärte. Richtig, es gibt nicht mehr viele aus dieser Kernklientel – zumindest nicht in Essen –, aber brauchen könnte die SPD sie schon ganz gut. So viele Wähler hat sie nicht mehr.

Abgang kennt nur Verlierer

Klug wäre jedenfalls gewesen, einem sicherlich nicht einfachen Genossen wie Reil Brücken zu bauen, um seine Prominenz und positive Energie nutzbar zu machen und seine Verstiegenheiten zu dämpfen. Kutschaty und seine Freunde fanden hingegen, es sei schon mehr als genug Entgegenkommen in Richtung der Nord-Genossen, den pflegeleichteren Altenessener Karlheinz Endruschat als Vize zu akzeptieren.

Reils Abgang kennt nur Verlierer. Und wenn Reil nicht aufpasst, ist er bald auch noch seinen moralischen Nimbus los. Seine Ankündigung, das Ratsmandat zu behalten, ist nicht in Ordnung – auch wenn das bei Parteiwechseln und Austritten mittlerweile üblich geworden ist.