Essen. Die Sprecher der „Zukunftswerkstatt“, in der 22 Essener SPD-Ortsvereine mitarbeiten, wollen die Partei vom Kopf auf die Füße stellen. Flüchtlingsfrage war der Auslöser.

Wenn eine Partei an Zuspruch verliert, merken das engagierte Basisvertreter meist schon, bevor katastrophale Umfragen oder Wahlergebnisse eintrudeln. In Essen hat sich eine erstaunlich große Zahl von Sozialdemokraten in einer „Zukunftswerkstatt“ zusammengeschlossen, um gemeinsam an politischen Inhalten und Strukturen zu arbeiten. Ziel ist, mit den Menschen vor Ort wieder gesprächsfähiger zu sein, ihre Sorgen zu registrieren, Probleme offen auszusprechen und Lösungen unter Verzicht auf ideologische Scheuklappen zu suchen. „Die Flüchtlingsfrage hat uns zusammengeführt“, sagt der Karnaper Ratsherr Guido Reil, der einer von vier Sprechern der Werkstatt ist, bei einem Besuch in unserer Redaktion.

Reil ist aber keineswegs der einzige, der die Enttäuschung der klassischen SPD-Wähler, aber auch vieler Parteimitglieder spürte. „Ich will erreichen, dass in der Partei Meinungsvielfalt herrscht“, sagt Angelika Weihnacht. Die Juristin aus Schönebeck, der 2014 erfolglos für den Rat kandidierte, hatte vergangenen Herbst ein Schlüsselerlebnis. In einer Sitzung des Essener Parteivorstands sprach sie offen über ihre Zweifel, ob wirklich ausnahmslos alle Flüchtlinge mit guten Absichten ins Land kommen. Die Reaktion des damaligen Vorstands um die Vorsitzende Britta Altenkamp sei so heftig gewesen, dass ihr klar wurde: Diskussion unerwünscht! Im Protokoll habe später der lapidare Satz gestanden: „Angelika Weihnacht hat Angst vor Terroristen“, was übersetzt wohl heißt: Ist nicht ernstzunehmen.

Politikprofis wirkten "wie geklont"

Die Bundespartei gebe eine politische Linie vor, von der nicht abgewichen werden solle, sagt der Altenessen Ratsherr Karlheinz Endruschat. Was aber, wenn vor Ort die Verhältnisse nun einmal anders, schwieriger sind? In der Flüchtlingsfrage habe die SPD im Essener Norden nach den ersten bekannt gewordenen Plänen einfach ein Stopp-Signal setzen müssen, um nicht weitere Glaubwürdigkeit zu verlieren. „Es geht mir darum, den Charakter der SPD als Volkspartei wiederherzustellen“, sagt Endruschat, vor seiner Pensionierung Bewährungshelfer und Sozialarbeiter.

22 von 33 Essener Ortsvereine arbeiten in der Zukunftswerkstatt mit, „was nicht heißt, dass wir in inhaltlichen Fragen durchgehend einer Meinung sind, und das müssen wir auch gar nicht“, betont Reil. Das hieße ja, die selben Fehler zu machen wie der alte Vorstand. Was sie aber gemeinsam erreichen wollten, sei dies: Bei der Vorstandsneuwahl beim Parteitag am 7. Mai sollen weniger Berufspolitiker und dafür deutlich mehr Basisvertreter zum Zuge kommen.

Die Politikprofis hingen bedingt durch beruflich-politische Interessengemeinschaften voneinander ab, dächten vielfach ideologisch und wirkten in ihren Urteilen und in ihrem Diskussionsverhalten nach Ansicht Reils „wie geklont“. Auf dem Parteitag soll deshalb ein Antrag verabschiedet werden, wonach hauptberufliche SPD-Funktionäre dem neuen Vorstand nicht angehören sollen. „Wir wissen natürlich, dass ein solcher Antrag keine juristische Bindewirkung hat“, sagt Ratsherr Thomas Rotter, der der SPD Margarethenhöhe vorsteht und als selbstständiger Ingenieur arbeitet. Aber jeder Delegierte sei ja frei, im Geist dieses Antrags seine Wahl zu treffen. Guido Reil formuliert es selbstbewusst so: „Wir sind die Pragmatiker und die Realisten in der SPD.“