Essen. . Stella Curci aus Karnap engagiert sich als Ehrenamtliche für Flüchtlinge. Sie ärgert sich über die Abwehrhaltung vieler Karnaper. Was sie im Zeltdorf erlebt.
Es ist der Refrain zur Flüchtlingskrise: „Ohne Ehrenamtliche geht es nicht“, heißt es immer wieder. Wie aber geht es den Helfern, auf denen so große Erwartungen lasten? Für die sechste Folge unserer Interview-Serie zur Flüchtlingskrise in Essen hat Christina Wandt mit Stella Curci (28) gesprochen: Curci arbeitet als Erzieherin in einer Kita in Bottrop und engagiert sich beim Runden Tisch Karnap. Ihr Vater ist Italiener, sie spricht selbst etwas Italienisch. Sie sagt: „Ich bin Karnaperin durch und durch.“ Was sie zur Stimmung im Zeltdorf und im Stadtteil sagt.
Frau Curci, wie haben Sie auf die Nachricht reagiert, dass im Mathias-Stinnes-Stadion ein Zeltdorf mit bis zu 688 Plätzen gebaut werden soll?
Stella Curci: 400 Leute, das hätte ich mir gut vorstellen können, aber diese Zahl fand ich schon erschreckend. Und ich konnte verstehen, dass sich die Anwohner dort Sorgen machten. Ich selbst wohne weit weg vom Camp und wollte mich erst mal nur darüber informieren, darum bin ich zur Bürgerversammlung in die evangelische Kirche gegangen. Das war schlimm, da habe ich meinen Stadtteil nicht wiedererkannt.
Wie würden Sie Ihr Karnap denn beschreiben?
Curci: Bisher als multikulturell und offen. Ich bin hier in einem Acht-Parteien-Haus aufgewachsen, wo jede Familie eine andere Nationalität hatte – es gab keinen Tag, wo wir nicht zusammen waren. Eigentlich bin ich selbst nur halb deutsch: Mein Vater ist Italiener. Das war hier Alltag.
Es gibt Karnaper, die meinen, dass dieser Alltag in Essen oft nicht funktioniert, dass die Integration zumindest teilweise gescheitert ist.
Curci: Ich arbeite in einer Kita, für mich ist es nicht neu, Menschen aus anderen Kulturkreisen zu begegnen. Entgegen der Aussage von SPD-Ratsherr Guido Reil ist diese Integration nicht gescheitert. Integration findet ständig statt und im Fall des Zeltdorfs Mathias Stinnes hat sie erst im Januar aktiv begonnen. Seither gibt es Angebote des Runden Tisches, und Guido Reil ist kein aktiver Teilnehmer. Daher kann er das, denke ich, für Karnap nicht beurteilen.
Und welches Karnap haben Sie bei der Bürgerversammlung erlebt?
Flüchtlingskrise: Zwölf Interviews, zwölf Blickwinkel
Bislang veröffentlichte Folgen unserer Interviewserie zur Flüchtlingskrise in Essen. Weitere Interviews folgen.
- zum Interview mit einer syrischen Flüchtlingsfamilie: Eine syrische Familie über Flucht und Neustart in Essen
- zum Interview mit dem Essener AfD-Chef Stefan Keuter: „Volk will diese Masseneinwanderung nicht“
- zum Interview mit Amer Alsaid: Wie kritisch ein syrischer Flüchtling Deutschland sieht
- zum Interview mit Christian Kromberg, Chef des Krisenstabes: Essen hat in der Flüchtlingskrise Tabus gebrochen
- zum Interview mit Stella Curci: Ehrenamtliche Helferin aus Karnap: „Herr Reil kann das nicht beurteilen“
- zum Interview mit Ridda Martina: Unterkunfts-Chef spricht über die Mühen der Integration
- zum Interview mit Hans-Jürgen Best: Essens Stadtplaner wirbt für neue Siedlungen
- zum Interview mit SPD-Ratsherr Guido Reil aus Karnap: Integration arabischer Flüchtlinge scheitert
- zum Interview mit Rudi Löffelsend: Caritas-Mitarbeiter über Hilfsbereitschaft und „German Angst“
- zum Interview mit Bischof Overbeck: „Jetzt können wir zeigen, was es bedeutet zu helfen“
- zum Interview mit Thomas Kufen: Essen wird sich verändern – im Guten wie im Schlechten
Curci: Die Stimmung war gleich zu Anfang so feindlich und aggressiv, dass ich die Fluchtwege im Blick behalten habe. Die Leute brüllten, unterbrachen Peter Renzel, den Essener Sozialdezernenten, der uns ja erst einmal informieren wollte. Da waren Leute, die ich schon seit meiner Kindheit kannte, die hetzten und äußerten dabei Vorurteile, die ich nicht für möglich gehalten hätte.
Haben Sie diese Leute denn mal darauf angesprochen?
Curci: Ich hab’ mich an dem Abend gemeldet, weil ich empört und voller Adrenalin war. Ich hab’ gesagt, „Da kommen Menschen wie Du und ich, Menschen, die unsere Hilfe brauchen“. Dafür gab’s Applaus, aber später kam eine Dame auf mich zu und sagte, bei den Flüchtlingen gebe es keine Dankbarkeit.
Zeltdorf Karnap: Freizeitangebot für fast 200 Flüchtlingskinder
Das hat Sie aber nicht abgeschreckt, in die Flüchtlingsarbeit einzusteigen...
Curci: Im Gegenteil, dieser Abend war für mich ein Grund, zum Treffen des Runden Tisches zu gehen. Da sind wunderbare Menschen zusammengekommen, und mit etwa 70 Aktiven auch mehr, als ich gedacht habe. Hier wohnen eben doch auch hilfsbereite, normale Menschen. Nun kann ich in Karnap wieder atmen und mit einem Lächeln durch meinen Stadtteil gehen.
Wie sieht Ihr Ehrenamt aus?
Curci: Mein Bruder Michel und ich sind Sprecher der Freizeitgruppe. Diese Gruppe macht Angebote für alle Bewohner des Camps. Vor allem für die fast 200 Kinder. Die evangelische Gemeinde, ohne die vieles nicht stattfinden könnte, stellt uns Räume zur Verfügung, Sportvereine bieten Kurse an und wir machen Freizeitgestaltung. Wir waren zum Beispiel bei Bäcker Peter, im Unperfekthaus oder im Theater.
Gab es da keine Verständigungs-Probleme?
Curci: Wir waren im Märchen-Musical im Aalto, das ging gut. Die Probleme waren eher kultureller Natur: Keiner wollte seine Jacke an der Garderobe abgeben, die hatten Angst, dass die Sachen verschwinden. Zudem haben alle mit ihren Smartphones fotografiert, da musste das Aufsichtspersonal einschreiten, aber die haben das mit Humor gemacht.
Nicht alle kulturellen Klippen lassen sich mit Humor umgehen...
Curci: Es gibt zig Kleinigkeiten, die für die Menschen fremd sind. Ein Angebot ist die Aikido-Gruppe, und die Kinder kriegten einen Schreck, als sie beim Sport Mineralwasser tranken – sie kannten keinen Sprudel. Es spricht nichts dagegen, ihnen stilles Wasser zu besorgen. An anderer Stelle müssen sie noch dazulernen: Rote Ampeln zu beachten und an der Straße innehalten. Oder dass sie keinen Müll auf den Boden werfen.
„Nach Beschwerden mussten die Zeltdorfbewohner Müll einsammeln“
Die Anwohner haben also Recht, dass es durch das Zeltdorf Probleme mit Müll und Lärm gibt?
Curci: Der Dreck rund um das Stadion hat schon zugenommen. Da müssen mehr Mülleimer aufgestellt werden, und man muss den Leuten klar sagen, dass sie Abfall nicht ins Gebüsch schmeißen dürfen. Das passiert auch schon: Nach Beschwerden mussten die Zeltdorfbewohner Müll einsammeln. Dass es zu laut wäre, kann ich nicht bestätigen.
Stimmt es denn, dass einigen Männern der Respekt vor Frauen fehlt?
Curci: Ich erlebe das vor allem bei kleinen Jungen, denen das so anerzogen ist, und das passiert wohl auch den Studentinnen, die Deutschunterricht geben. Ich kann mich da durchsetzen und weiß aus meiner Erfahrung als Erzieherin auch, wie wichtig es ist, den Respekt einzufordern – das lernen die Jungen schon. Leider fehlen im Camp sowohl Raum als auch Personal für eine frühkindliche Werte-Erziehung. Da muss eine Kinderbetreuung hin! Die sorgt neben Pädagogik für Sprachförderung und die Vermittlung von Normen. Aber als die Bewohnerzahl von 400 auf über 600 erhöht wurde, fiel das Kinderzelt einfach weg.
Kürzlich haben Bewohner des Zeltdorfes in Karnap protestiert. Haben die Flüchtlinge überzogene Erwartungen?
Curci: Eins möchte ich vorausschicken: Ich würde es da keinen Tag aushalten, ohne Schrank für meine Sachen, ohne Tür, die ich schließen kann, die Enge... Dazu kommt die Ungewissheit, die die Menschen nervös macht: Die wissen nicht, was mit ihrem Leben geschieht. Klar, dass man da bei vielen eine Unruhe und Ungeduld spürt, Aggressivität habe ich aber nie erlebt. Im Gegenteil, es gibt große Dankbarkeit. Die Leute haben da ja keine Luxusversorgung, aber jedes Mal, wenn wir kommen, bieten uns die Kinder sofort einen Tee an.
Also gibt’s gar keine Probleme?
Curci: Natürlich ist nicht alles gut, aber im Moment ist es hier fast so, dass man das Gute gar nicht mehr erwähnen darf. Was da in sozialen Netzwerken unterwegs ist, überschreitet oft schon die Grenze zur Volksverhetzung. Und es transportiert eine negative Grundstimmung, die sich nicht mit der Realität deckt. Ich bin nicht auf Facebook – ich bilde mir meine Meinung im realen Leben.
Und welche Meinung haben Sie sich zur Kernfrage der Krise gebildet: Können wir es schaffen?
Curci: Das kann ich auch nicht beantworten. Die Arbeitsteilung darf jedenfalls nicht sein, dass die einen anpacken, den Flüchtlingen helfen – und die anderen Hass gegen sie schüren.
„Fast 700 Menschen ist eigentlich zu viel für Stadion und Stadtteil“
Wo ist Ihre Belastungsgrenze?
Curci: Ich verbringe täglich viel Zeit mit der Koordination der Freizeitgruppe und begleite selbst Ausflüge, oft am Wochenende. Zudem arbeite ich ja auch; da kommt man schon an seine Grenzen. Wenn ich Familie hätte, ginge das so nicht.
Und was sagt Ihr Freund zu Ihrem Engagement?
Curci: Der hilft selbst mit (lacht): Er hatte praktisch keine andere Wahl.
Welche Hilfe erhoffen Sie sich denn von Verwaltung und Politik?
Curci: Hilfreich wäre schon, wenn man es tatsächlich bei 400 Bewohnern des Camps belassen hätte. Wir arbeiten hier gegen den Lagerkoller an, aber fast 700 Menschen ist eigentlich zu viel für Stadion und Stadtteil.
Also lag die SPD mit ihrem geplanten Demo-Motto „Der Norden ist voll“ richtig?
Curci: Das Motto war unpassend, aber ich hätte die Demo sinnvoll gefunden.
„Da müssen die im Süden auch mal einen Acker opfern“
Dabei gehören Sie doch zu denen, die mancher „Gutmensch“ nennt...
Curci: Der Protest sollte sich ja auch nicht gegen Flüchtlinge richten, sondern dagegen, die nördlichen Stadtteile mit allen Integrations-Aufgaben allein zu lassen. Sobald im Süden eine Unterkunft geplant wird, schreien sie, dass das Landschaftsschutzgebiet ist. Aber wir sollen immer alles hinnehmen, so wie man uns schon das Jugendzentrum Kalle und das Kuhlhoff-Bad geschlossen hat.
Ist Karnap doch ein abgehängter Problem-Stadtteil?
Curci: Ach was, ich möchte nirgends anders wohnen. Darum arbeite ich hier für die Integration – und gegen die schlechte Stimmung. Nur, glauben Sie mir, das wird nicht leichter, wenn es plötzlich heißt: „Vergesst Eure Marina-Pläne, da bauen wir jetzt mal eine Flüchtlingsunterkunft hin.“ Da müssen die im Süden auch mal einen Acker opfern.