Essen. Viele Essener kennen Ridda Martini als den Mann, der Flüchtlingsheime betreut. Hier erzählt er, wie er selbst als Kind aus Syrien nach Deutschland kam.

Herr Martini, Sie sind Regionalleiter von European Homecare (EHC), der Firma, die die meisten Flüchtlingsunterkünfte in Essen betreut. Man könnte Sie auch Mr. Asyl nennen.

Ridda Martini: Tatsächlich bin ich inzwischen eine öffentliche Person geworden, schon weil ich auf vielen Bürgerversammlungen war, seit ich 2013 nach Essen gekommen bin. Damals wurde die Behelfseinrichtung in der Dilldorfschule eröffnet, und es ging mir darum, das Haus zu öffnen, unsere Arbeit transparent zu machen.

Sie stammen selbst aus Syrien, inwiefern hat Sie Ihre eigene Herkunft auf Ihre Aufgabe vorbereitet?

Martini: Meine Mutter ist Deutsche, ich bin 1970 in Krefeld geboren, aber meine Eltern sind nach Aleppo gegangen, als ich ein halbes Jahr alt war. Ich bin dort aufgewachsen und war sehr auf arabisch getrimmt. Anfang der 1980er Jahre kehrte meine Familie nach Deutschland zurück, weil in Syrien der Bürgerkrieg tobte.

Sie waren also selbst Flüchtling?

Martini: Wir waren eher Auswanderer, denn meine Eltern hätten bleiben können, sie gingen für mich und meinen Bruder. Als Vater verstehe ich heute, dass sie für die Sicherheit ihrer Kinder ihr bürgerliches Leben in einer wunderschönen Stadt aufgaben.

Ihr Vater hatte in Aleppo ein Farben- und Lackunternehmen...

Martini: ...und fing hier als Hilfsarbeiter an. Uns Kinder wollte er damit nicht behelligen, wir sahen aber, dass seine Hände zerschnitten waren, weil er als Kartonpacker arbeitete. Wenn man etwas Neues beginnen will, muss man seinen Stolz ablegen, das ist die wahre Größe.

Wie gelang Ihnen der Wechsel nach Deutschland?

Martini: Anfangs war es schwer, obwohl ich ja deutsche Wurzeln habe. In Syrien war ich Klassenbester, heimste Auszeichnungen ein. Hier musste ich von der fünften Klasse zurück in die dritte, um mit einem Schulbuch für I-Dötzchen schreiben zu lernen. Die Kinder in der Fibel hießen Tom und Maria, ihr Hund hieß Ali – wie mein Onkel. Das fand ich beleidigend. Heute nimmt man Flüchtlingskinder in Seiteneinsteigerklassen behutsam an die Hand. Bei mir war es damals eine Katastrophe.

Wurde Ihre Mutter deshalb in die Schule bestellt?

Flüchtlingskrise: Zwölf Interviews, zwölf Blickwinkel

Bislang veröffentlichte Folgen unserer Interviewserie zur Flüchtlingskrise in Essen. Weitere Interviews folgen.

Martini: Das lag an dem Bild zum Thema ,.Mein schönstes Ferienerlebnis“: Ich malte den „ruhmreichen Sieg der syrischen Armee über den zionistischen Feind Israel“. Ich war sehr anti-israelisch eingestellt. Meine Mutter hat mir dann die deutsche Vergangenheit erklärt und somit meine Einstellung geändert. Seither war ich immer sehr interessiert am Geschichtsunterricht, obwohl ich sonst ein schlechter Schüler blieb.

Wann sind Sie denn schließlich hier angekommen?

Martini: Das hat eine Zeit gebraucht. Selbst für meine Mutter, die Arabisch gelernt und in Aleppo Fuß gefasst hatte, war die Rückkehr in ihr verändertes Heimatland nicht leicht.Und mein Vater hatte lange den Traum, dass ich eines Tages zurückkehren und seine Firma neu aufbauen würde. Ich erlebe heute auch bei vielen Flüchtlingen, dass sie den Wunsch haben, eine Brücke zu bilden, die ihre beiden Leben verbindet.

Sie sollten diese Brücke sein...

Martini: Ich wollte es auch, habe darum eine Ausbildung als Industriekaufmann gemacht, war bei der Bundeswehr, um nicht in Syrien Militärdienst leisten zu müssen, und bin dann nach Aleppo gegangen. Dort merkte ich, dass das nicht meine Gesellschaft ist, dass die mich nicht akzeptieren – und dass ich mich furchtbar verbiegen müsste, um akzeptiert zu werden. Ich wusste plötzlich: Ich bin kein Syrer und kein Araber. Also bin ich nach Deutschland zurückgekehrt, habe meinen Vater angerufen und gesagt: „Ich bleibe jetzt hier.“

Wie hat er auf diese Enttäuschung reagiert?

Martini: Er war traurig, aber er hat sofort angeboten, mich zu unterstützen und hat das auch getan – moralisch und finanziell, als ich mein Abitur nachgeholt habe, mit 26 Jahren. Ich bin also kein Flüchtling, kenne mich aber mit biographischen Brüchen gut aus. Viele Menschen hierzulande können sich in die Schwierigkeiten der gefahrvollen Flucht hineinversetzen. Doch sie können kaum begreifen, welche Schwierigkeiten erst nach der Ankunft hier beginnen, wenn man sein altes Leben aufgeben muss.

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Sie sind dann Mediengestalter geworden, haben für eine Agentur rund um die Welt gearbeitet, haben viele Länder und Menschen kennengelernt...

Martini:...bis die dot.com-Blase platzte und meine Firma pleite ging. Meinen Job bei European Homecare habe ich 2010 eher zufällig bekommen: Ich arbeitete ehrenamtlich in einem Flüchtlingsheim in Oldenburg und EHC sprach mich an, ob ich nicht als Sozialbetreuer anfangen wolle.

Waren Sie dafür denn überhaupt qualifiziert?

Martini: Ich kann Arabisch, ich habe den Leuten bei Behördengängen geholfen, schwierige Fälle betreut – offenbar hielt man mich für geeignet.

Bald leiteten sie selbst eine Heim; heute sind sie Regionalleiter und stellen selbst Sozialbetreuer ein.

Martini: Auch bei mir läuft das nicht allein über Qualifikationen, sondern über Herz und Verstand. Wir beschäftigen Leute, die selbst erst vor fünf Jahren als Flüchtling hier ankamen, die sprechen nicht nur die Sprache der Neuankömmlinge, die zeigen denen auch: „Ich kenne Deine Lage, sieh her, Du kannst es schaffen.“

Daran kamen zuletzt Zweifel auf beiden Seiten auf.

Martini: Wir schaffen es, allen ein Dach über dem Kopf zu geben. Ob sie integriert werden, hängt auch von ihrer Mithilfe ab. Dazu gehören: Spracherwerb, Bildung – und Geduld.

Sind die Bewohner des Zeltdorfs in Karnap zu ungeduldig, haben sie überzogene Erwartungen?

Martini: Für die Leute bedeutet Deutschland Ordnung, sie können nicht glauben, dass ihre Asylverfahren nicht mal anfangen. Sie fordern keinen Job oder ein Haus, sie wollen bloß, dass es weitergeht, dass sich etwas bewegt. Sie haben Angst um ihre Familien, die sie herholen wollen. Sie haben tausende Kilometer zurückgelegt und müssen erkennen, dass ihre Reise noch lange nicht beendet ist.

Nach den Ereignissen in Köln zweifeln viele Menschen am Integrationswillen der Flüchtlinge.

Martini: Was Köln angeht, müssen die genauen Umstände erst geklärt werden. Allgemein gilt: Flüchtlinge sind keine Engel und keine Teufel, sondern Menschen – solche und solche.

Und mit welcher Art „solche“ haben Sie es zu tun?

Martini: Der Großteil kommt mit einer großen Bereitschaft zur Integration. Die sind neugierig, wie diese Gesellschaft funktioniert, wünschen sich, dass ihre Kinder bald zur Schule gehen. Sie müssen aber auch Enttäuschungen verkraften, wenn sie etwa hören, dass hier die Nachfrage nach Kupferstechern gegen Null geht. Der eine sieht das als Herausforderung, Neues zu lernen, anderen steht der eigene Charakter im Weg.

Und manche satteln auf Drogenhandel und Taschendiebstahl um?

Martini: Nach unseren Erfahrungen sind maximal fünf Prozent der Leute haarsträubend kriminell und haben hier nichts zu suchen. Oft sind das Menschen, die hier ohnehin keine gute Bleibeperspektive haben, etwa junge Männer aus Nordafrika, die dort während der Bürgerkriege als Straßenkinder aufgewachsen sind. Das ist eine verlorene Generation, die sich durch Strafandrohungen kaum beeindrucken lässt.

An der Tiegelstraße haben ein paar dieser jungen Männer eine ganze Unterkunft drangsaliert, ohne dass sie abgeschoben worden wären.

Martini: Eine Abschiebung ist nicht möglich, solange das Asylverfahren noch gar nicht begonnen hat – darauf haben auch diese Leute ein Recht. Andere tauchen, wenn es Ärger gibt, in Nachbarländern unter. Flüchtlinge aus Irak oder Syrien sind dagegen meist glücklich, hier zu sein und wollen keine Konflikte hertragen.

Täuscht etwa der Eindruck, dass sich viele der Flüchtlinge mit westlichen Werten und einem modernen Frauenbild schwer tun?

Martini: Frauenverachtend und gewalttätig sind die allerwenigsten Flüchtlinge – solche Männer gibt es hierzulande leider auch. Dass Männer einer Frau nicht die Hand geben, kann in anderen Kulturen ein Zeichen von Respekt sein – und wird hier als Missachtung gesehen. Es kommt aber selten vor, dass sich Mitarbeiterinnen über frauenfeindliches Verhalten beschweren. Richtig ist, dass in arabischen Ländern eine größere Distanz zwischen Frauen und Männern herrscht; und die wird sich nicht mit einem VHS-Kurs auflösen lassen. Das dauert eine Generation.

Und bis dahin sollen wir hinnehmen, dass Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt werden?

Martini: Das würde ich ohnehin bestreiten; im Arabischen gibt es einen Begriff für die Rolle der Frau als „Chefin des Hauses“. Statt allein die Männer über ihre Pflichten zu belehren, sollten wir den Frauen ihre Rechte zeigen. Wir müssen ihnen Wege weisen, das Haus zu verlassen und im Leben draußen eine Rolle zu finden.

Wie wollen Sie das hinbekommen?

Martini: Ein erster, simpler Ansatz ist, dass wir die Kinderbetreuung ausbauen. Oft besuchten nur die Männer die Sprachkurse, weil sich die Frauen um die Kinder kümmern mussten.

Woher kommt Ihr Optimismus?

Martini: Das ist zum einen mein Naturell, zum anderen habe ich ein großartiges Team, eine tatkräftige Stadtverwaltung und Hunderte Ehrenamtliche an meiner Seite: Ich habe mich in Essen nie allein gelassen gefühlt.