Essen. Erstmals beschäftigt sich das NRZ-Bürgerbarometer mit Flüchtlings-Fragen. Nur eine Furcht ist groß: Nicht vor den Fremden, sondern den Fremdenhassern.

Flüchtling, kommst du nach Essen... – hast du es nicht schlecht getroffen. Nein, wirklich nicht: Die Hilfsbereitschaft der hiesigen Bürger ist groß, deutlich größer jedenfalls als ihre Sorge angesichts der vielen Menschen aus fremden Ländern und Kulturen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Selbst beim direkten Blick aus dem Wohnzimmer-Fenster auf ein Flüchtlingsdorf bleiben viele gelassen, wenn der anfängliche Unmut erst einmal wieder verflogen ist. Doch eine Furcht umtreibt die meisten Essener dann doch deutlich: Nicht die vor den Fremden, sondern die vor den Fremdenhassern, die ihre Stunde kommen sehen, um radikale Vorbehalte rücksichtslos zu schüren.

Über 30 Bürgerversammlungen zur Flüchtlingsunterbringung

Dies sind die zentralen Erkenntnisse aus dem diesjährigen NRZ-Bürgerbarometer, das sich zum ersten Mal mit der Flüchtlings-Thematik auseinandersetzt und dabei die Stimmungslage in der Bevölkerung offenbar ziemlich genau trifft. Das jedenfalls sieht Sozialdezernent Peter Renzel so. Der städtische Beigeordnete dürfte nach über 30 Bürgerversammlungen zur Flüchtlingsunterbringung ein gutes Näschen für Schwingungen und Ausschläge bekommen haben: „Die Antworten haben mich nicht überrascht, sondern spiegeln das wider, was ich erlebe.“

Zum Beispiel rund um die bereits bestehenden Standorte zur Unterbringung der Menschen: Mehr als die Hälfte der Befragten kann sich durchaus vorstellen, persönlich aktiv zu werden bei der Betreuung der Flüchtlinge vor der Haustür. Exakt 25 Prozent aber sind gegenteiliger Ansicht. Für sie kommt ein Engagement für die Neuankömmlinge gar nicht in Frage. Nur jeder Fünfte ist in diesem Punkt unentschlossen. Unterm Strich also ist die Bereitschaft, selbst aktiv zu werden für das Wohlergehen wildfremder Menschen, noch „gut“, wenn auch mit einigen Abstrichen: Im Süden der Stadt ist das Gefühl, helfen zu müssen etwas ausgeprägter als im Norden. Wobei die Frauen eher mit anpacken wollen als die männlichen Befragten.

Überwiegend positiven Haltung gegenüber Flüchtlingen

Doch nicht bei den Geschlechtern, sondern auch zwischen den Altersgruppen sind Unterschiede auszumachen. Sie sind zwar nicht allzu markant, aber dennoch erkennbar: Die größte Hilfsbereitschaft zeigen die 40- bis 59-Jährigen, die geringste die über 70-Jährigen und die unter 40-Jährigen.

„Viele Essener denken, geht das gut, und fragen sich, wie lange schaffen wir das? Das ist legitim“, sagt Peter Renzel beim Blick auf die Antworten auf die Bürgerbarometer-Frage „Bereitet Ihnen die große Zahl von Flüchtlingen, die nach Essen kommen, Sorge?“ 46 Prozent der Befragten hat mit der Entwicklung offenbar kaum ein Problem, jeder dritte von ihnen gar keins. 28 Prozent sind jedoch gegenteiliger Ansicht. Etwas weniger als ein Viertel der Befragten ist in dieser Frage eher unschlüssig.

Peter Renzel meint an der überwiegend positiven Haltung der Essener gegenüber Flüchtlingen vor allem eins ablesen zu können: Die meisten Bürger haben verstanden, dass ihre Stadt sich verändern und massiv durch den Zuzug der Menschen wachsen wird. Ob sie es wollen oder nicht – sie ahnen, wie die Zukunft aussieht, und gestalten dafür bereits die Gegenwart – für ein möglichst gutes Miteinander, schon heute und auf Sicht.

62 Prozent befürchten, das Thema Asyl begünstige radikale Stimmungen

Noch größer als die Bereitschaft Flüchtlingen helfen zu wollen, ist die Furcht der beim NRZ-Bürgerbarometer Befragten, dass das Thema Asyl radikale Stimmungen begünstigt. Es ist eine in der Tat alarmierende Zahl, wenn immerhin 62 Prozent der Essener genau diese Sorge umtreibt und noch nicht einmal jeder zehnte gegenteiliger Ansicht ist. Die Schar der Unentschlossenen bleibt in dieser Frage sehr überschaubar, was am Ende ein dann besonders klares Meinungsbild ergibt.

Die Einschätzung zieht sich dabei quer durch alle Altersgruppen von 14 bis 59 Jahre. Nur die über 60-Jährigen sehen mögliche Rechts-Tendenzen etwas gelassener. Sie sind seltener der Meinung, dass Scharfmacher und Rassisten aus der Flüchtlingsfrage Kapital schlagen könnten.

FlüchtlingeWeibliche Befragte sind in der Beantwortung der Frage tendenziell unsicherer als Männer. Leichte Unterschiede lassen sich auch diesseits und jenseits der A 40 ausmachen: Die Bürger im Norden der Stadt sind eher der Meinung, das Thema Asyl leiste radikalen Stimmungen Vorschub.

Zukunftschancen sehen

Dass die Bürger die Gefahr von Rechts so deutlich sehen, „muss uns mit Sorge umtreiben“, sagt Sozialdezernent Peter Renzel, für den es eigentlich nur ein Mittel gibt, damit krude Botschaften nicht dauerhaft in den Köpfen verfangen: Transparenz. „Wir müssen darauf mit Fakten reagieren.“

Nur so könne man die Menschen aufklären und davon überzeugen, dass rechtsextremistische Strömungen in Essen keinen Raum bekommen dürfen: „Wir müssen als Stadtgesellschaft dagegenhalten.“ Dabei gehe es um das Vermitteln von Wissen mit dem Ziel, möglichst viele Bürger in die Lage zu versetzen, auf Höhe der aktuellen Entwicklungen mitdiskutieren zu können, ist Renzel überzeugt: „Eine der größten Hilfen ist es, wenn die Menschen, die es verstanden haben, faktenreich über das Thema Flüchtlinge berichten können.“

Man dürfe allerdings nicht nur über die Krise vor Ort, die in Flüchtlingsdörfern Gestalt angenommen hat, und die Gefahr einer Überfremdung sprechen, sondern sollte die Zukunftschancen sehen, die die gesamte Zuwanderung bietet – wenn man die Herausforderungen meistert und Antworten auf die Fragen findet, die sich nach der Unterbringung der Menschen zwangsläufig stellen: „Die, die bei uns bleiben, müssen so schnell wie möglich Wohnungen bekommen“, sagt Renzel: „Flüchtlingsunterkünfte sind definitiv keine Orte der Integration.“