Essen. Die so genannten „Seiteneinsteiger“ können kein Wort Deutsch und kommen in der Regel aus Krisengebieten. Wie die Schulen damit umgehen.

Unter „Seiteneinsteigern“ versteht man Kinder und Jugendliche, die ohne ein Wort Deutsch an eine Essener Schule kommen. Die meisten von ihnen sind Flüchtlinge. Wenn man Anne Beyer fragt, wie lange sie schon mit „Seiteneinsteigern“ arbeitet, sagt sie: „Seit 30 Jahren.“ So lange unterrichtet sie schon an einer Hauptschule.

Anne Beyer leitet die Hauptschule Bochold. Hauptschulen waren schon immer die Schulen, die sich um „Seiteneinsteiger“ gekümmert haben, als von Flüchtlingswellen überhaupt noch keine Rede war. Doch jetzt, berichtet die Schulleiterin, habe sich etwas verändert: „Man muss manche Neue erst an das Prinzip Schule gewöhnen. Das heißt, es ist nicht allen klar, dass man hier täglich zu erscheinen hat, und zwar pünktlich. Viele kennen keine Uhr.“ Sie hat deshalb eine Papp-Uhr gebastelt, die hängt in dem Raum, in dem die „Alphabetisierungsklasse“ unterrichtet wird – so werden Lerngruppen genannt, denen man erst Lesen und Schreiben beibringen muss, auch wenn sie längst dem Grundschulalter entwachsen sind.

Kinder lernen, Bleistifte zu halten

„Viele von ihnen wollen lernen, und zwar viel und schnell“, berichtet die Schulleiterin. „Man weiß im Grunde als Lehrer nach zwei Wochen, wer es hier zu einem guten Abschluss schaffen kann und wer nicht.“ Doch auch nach Jahrzehnten im Schulbetrieb macht Anne Beyer immer wieder die Erfahrung, dass Selbstverständlichkeiten für jene, die neu kommen, eben dies nicht sind: „Es hat etwas gedauert, bis alle verstanden haben, wie man eine Büroklammer richtig benutzt. Oder einen Locher.“

Ihr Stellvertreter Jörg Kulbatzki unterrichtet Mathematik – und auch in den Naturwissenschaften, berichtet der Lehrer, brächten die Seiteneinsteiger neue Herausforderungen mit: „Man kann nicht voraussetzen, dass Kinder, die zum Beispiel aus Rumänien oder Bulgarien kommen, schon wissen, wie man Bleistift und Lineal bedient. Man fängt mit diesen Kindern teilweise wirklich ganz von vorne an, auch wenn sie schon elf oder zwölf Jahre alt sind.“

23 neue Lehrer für Essener Schulen

Die Essener Hauptschulen unterrichten mit derzeit 229 Kindern und Jugendlichen einen beträchtlichen Teil der „Seiteneinsteiger“; nur die Gymnasien (299) haben mehr jener Schüler aufgenommen, und natürlich die Grundschulen (924). Längst ist klar, dass die Stadt aufgegebene Schulgebäude wieder aktivieren muss, um alle Kinder unterrichten zu können, und das Land hat neue Lehrer-Stellen springen lassen – 23 an den Essener Schulen, immerhin.

Fakt ist aber auch, dass der anhaltende Zuzug von Flüchtlingen eine ungewisse Planungsgröße ist, mit der eine stadtweite Schul- und Gebäudeentwicklung mittel- bis langfristig sehr schwierig wird. Der städtische Schulentwicklungsplan spricht von „größten Unwägbarkeiten“. Und Fakt ist ebenfalls: Alle Kinder ab sechs Jahren sind schulpflichtig, benötigen einen Platz.

Bei allen Schwierigkeiten: Es gibt sie, die Erfolgsgeschichten, die auch die Pädagogen immer wieder neu motivieren. „Wir hatten mal eine Schülerin“, erzählt Jörg Kulbatzki, „die kam aus Litauen, sprach erst kein Wort Deutsch. Nach wenigen Jahren war sie dann Schülersprecherin und hat am Ende der Zehn die offizielle Abschlussrede gehalten.“