Essen. . Die Elektropop-Pioniere von „Kraftwerk“ blicken in der Lichtburg auf 45 Jahre Bandgeschichte und wirken auch visuell immer noch sehr visionär.
In der Essener Lichtburg sind an diesem Wochenende unbekannte Flugobjekte auszumachen. Noten schweben den Besuchern auf der Leinwand wie Sound-Wolken entgegen, und vier „Musikarbeiter“ stehen unbeweglich wie eh und je in fluoreszierenden Neoprenanzügen an dezent beleuchteten Computerpulten und bedienen die Regler: „Wir sind die Roboter!“
Die legendäre Düsseldorfer Band Kraftwerk ist nach 45 Jahren wieder einmal auf Tour. Das allein ist schon eine kleine Sensation. Und weil ein Auftritt dieser einflussreichsten Vorreiter der elektronischen Musik kein gewöhnliches „Best of“ verspricht, sondern dank seiner aufwendigen 3D-Visualisierung derzeit wohl immer noch zum technisch Innovativsten gehört, was man im Musikgeschäft erleben kann, waren gleich sieben Konzerte in Deutschlands schönstem und größten Filmpalast schon vor Monaten restlos ausverkauft.
Spannende Reibung aus Futurismus und Nostalgie
Mit ihrer Mischung aus Konzert, Klang-Performance und 3D-Projektion sind die Elektropop-Pioniere auch 45 Jahre nach der Gründung noch so etwas wie zukunftsweisende Legenden. Das New Yorker Museum of Modern Art hat den Maschinenmusikern vom Rhein bereits eine große Werkschau ausgerichtet.
Um den Auftritt in der traditionsreichen Essener Lichtburg hatten sich die Mannen um Ralf Hütter, das einzige noch verbliebene Ur-Mitglied der Gründungsformation, persönlich bemüht. Und der geschichtsträchtige Filmpalast nimmt die spannende Reibung aus futuristischen Klangbasteleien und dem in nostalgisches Schwarz-Weiß gekleideten Filmmaterial hervorragend auf: Wenn zum legendären Song „Das Model“ nicht Heidi Klums Hungerhaken über den Laufsteg staksen, sondern Mannequins in den Looks der 1950er posieren. Wenn die Radrennfahrer bei „Tour de France“ noch in Lederkappen durch Paris radeln oder der Song „Neonlicht“ von Wirtschaftswunder-Werbung von „4711“ bis „Klosterfrau Melissengeist“-Logos begleitet wird, die wie nostalgisch-bunte Grüße aus der Vergangenheit nun in 3D-Technik durch den Kinoraum wabern.
"Radioaktivität" als Soundtrack zu Angela Merkels Energiewende
Computer-Musik wird zum sinnlichen Totalerlebnis. Und doch ist nichts zu viel in diesem von monotonen Melodien reich durchfluteten Klangkosmos. Wenn der „Trans Europa Express“ mitten ins Parkett zu rattern scheint und der Zuschauer aus dem Fond einer Mercedes-Limousine auf der legendären „Autobahn“ noch einmal das goldene Zeitalter des Individualverkehrs betrachtet. Und während da so verträumt am Radio-Regler gedreht wird, werden die technischen Zukunftsträume links schon wieder von der Realität überholt. Da klingt der alte Song „Radioaktivität“, inzwischen von Katastrophen-Begriffen wie Tschernobyl bis Fukushima flankiert, längt wie der Soundtrack zu Angela Merkels Energiewende.
Als Musikarbeiter des Fortschritts haben Kraftwerk alle technischen Neuerungen willkommen geheißen und mit Liedern wie „Computerwelt“, in denen sie bereits vor über 30 Jahren von digitaler Überwachung sprachen, visionäre Songs entwickelt. Nach 45 Jahren blicken sie nun auf das Ergebnis. Nüchtern, cool und unbeweglich wie eh und je. Doch wippt da oben auf der Bühne inzwischen auch mal ein Fuß, gibt es eine Andeutung von Blickkontakt. Roboter sind auch nur Menschen.