Essen. Birgit Jürgens ist Oberstaatsanwältin für Kapitalverbrechen. Wenn die Polizei den Verdacht hat, es geht um Mord oder Totschlag, ist sie am Zug.

Es ist dunkel und kalt, Polizei und Technisches Hilfswerk arbeiten im Scheinwerferlicht in einem Schrebergarten. Als schließlich die ermordete Madeleine unter Beton verscharrt gefunden wird, ist Birgit Jürgens dabei. Die 58-Jährige kennt auch das Hinterzimmer eines Döner-Imbisses, in dem eine 15-Jährige den Besitzer mit einem Messer erstochen hat. Eine Enge, die man im Sitzungssaal mit Bildern nicht wiedergeben kann. Auch nicht den Anblick des vielen Blutes.

Birgit Jürgens ist Oberstaatsanwältin und leitet seit zwölf Jahren die Abteilung für Kapitalverbrechen, gehört seit 1991 zur Staatsanwaltschaft Essen. Tatorte schaut sie sich in aller Regel selbst an. Es geht dabei um Blutspuren, Lage und den genauen Ort, an dem eine Leiche gefunden wurde. Diese Wahrnehmungen seien eindrücklicher für die Beurteilung eines Falles als Fotos, die man sich später anschauen könne, sagt Birgit Jürgens.

Immer dann, wenn die Kriminalpolizei bei ihren Einsätzen den Verdacht hat, es könnte sich um Verbrechen wie Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge handeln, wählen die Beamten die Nummer von Birgit Jürgens, ihres Stellvertreters oder einer der zwei weiteren Staatsanwältinnen, die zu ihrer Abteilung gehören. Es ist ein sehr eingeschworenes Team, denn sie müssen eng zusammenarbeiten und sich völlig aufeinander verlassen können.

Eine Gewisse Neugier gehört zum Job

Feste Arbeitszeiten gibt es nicht. Als Dezernenten der Fachabteilung stehen sie der Polizei auch nachts zur Verfügung, wenn eilige Entscheidungen zu treffen sind. Bei Einsätzen am Wochenende wechseln die Juristen sich ab. In ihrem Büro an der Zweigertstraße erwirkt die Oberstaatsanwältin bei laufenden Ermittlungen regelmäßig richterliche Beschlüsse, sie organisiert Zeugenvernehmungen oder beantragt Haftbefehle sowie Obduktions-Anordnungen. Dann ist sie regelmäßig im Institut für Rechtsmedizin, denn „nur so kann ich unmittelbar Fragen zu den Verletzungen an die Mediziner richten, kann mir den Schussverlauf oder Länge eines Stichkanals anschauen“.

Mit den Bildern vom Tatort muss  Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens leben, darf die Gedanken daran aber nicht nach Hause tragen: „Dann könnte ich nicht mehr schlafen und wäre falsch hier.“
Mit den Bildern vom Tatort muss Oberstaatsanwältin Birgit Jürgens leben, darf die Gedanken daran aber nicht nach Hause tragen: „Dann könnte ich nicht mehr schlafen und wäre falsch hier.“ © FUNKE Foto Services

Rechtswissenschaften hat Birgit Jürgens in Marburg und Münster studiert. Ihr berufliches Ziel lautete früh: Staatsanwaltschaft. An Kapitalverbrechen hat sie da noch nicht gedacht, aber daran, dass sie keinesfalls nur am Schreibtisch arbeiten oder den Tag im Sitzungssaal verbringen will. Richterin zu werden, kam daher nicht infrage. Jetzt ist sie die Chefin der Kapitalabteilung und bei den Ermittlungen „Herrin des Verfahrens“. Eine gewisse Neugier gehört zu ihrem Job, ein hohes Maß an Objektivität und immer wieder die Fragen: „Haben wir einen Tatverdächtigten? Ist das wirklich der Täter? Kann ich ihn überführen, reichen die Beweise?“ Schweigt ein Beschuldigter, darf sie sich nicht beeinflussen lassen. „Das ist sein gutes Recht“, sagt Birgit Jürgens und fügt nicht ganz ernst hinzu: „Ich habe Derrick immer beneidet, der dem Verdächtigen tief in die Augen schaute und prompt legte der ein Geständnis ab.“

Böse Blicke aushalten

Zuständigkeitsbereiche der Kapitalabteilung

Die vier Dezernenten der Kapitalabteilung der Staatsanwaltschaft Essen sind auch zuständig für die Städte Gelsenkirchen, Bottrop, Gladbeck, Marl, Hattingen und Dorsten.

In ihren Aufgabenbereich fallen zudem fahrlässige Tötungen z.B. im Straßenverkehr, Brand, Sprengstoffdelikte, gewerbliche Unfälle und Unfälle im Bahn-, Luft- oder Schiffsverkehr.

Die Oberstaatsanwältin selbst sieht den Beschuldigten oft zum ersten Mal, wenn der dem Haftrichter vorgeführt wird. In diesem Augenblick sowie später im Gerichtssaal muss sie mitunter böse Blicke aushalten. Dort trifft sie in den meisten Verfahren auch erstmals auf die geladenen Zeugen. „Das erhöht den Spannungsbogen enorm“, sagt Birgit Jürgens. Denn sie hat die Menschen bis dahin meistens nicht persönlich erlebt, sondern die Vernehmung nur in schriftlicher Form von Ermittlern der Polizei in Händen gehalten. Erst im Laufe des Prozesses stelle sich aber heraus, wie die Zeugen sich tatsächlich verhalten und „ob es dabei bleibt, wie es in den Akten steht“. Selbst wenn die Beweislage noch so eindeutig sei, wisse sie nie, wie sich ein Fall vor Gericht entwickle. Und läuft es auf einen Freispruch hinaus, bedeute das mitnichten, dass sie ihren Job schlecht gemacht habe, denn als Oberstaatsanwältin ermittelt sie in beide Richtungen, um Beschuldigte zu be- oder zu entlasten.

Zum Prozessauftakt verliest Birgit Jürgens die Anklage, nach Tagen, oft erst nach Wochen, ergeht das Urteil. Erhält der Angeklagte lebenslänglich und die besondere Schwere der Schuld kommt hinzu, dann kann dieser Fall die Staatsanwaltschaft Jahrzehnte beschäftigen. Sie prüfen nach 13 Jahren Haft regelmäßig, ob die Strafe länger als 15 Jahre währen muss, erklärt die Juristin mit Blick auf mehrere Stapel mit dicken Ordnern neben ihrem Schreibtisch.

Tatorte sind selten so schön wie im Fernsehen

Diesen zu verlassen, um an einen Tatort zu fahren, das müssen die Staatsanwälte nicht zwangsläufig: „Sie sollten das aber tun“, sagt Birgit Jürgens, „um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen.“ Daher fuhr sie nachts nach Dellwig in die Kleingartenanlage, betrat den Dönerladen – und jüngst das Badezimmer in Altenessen. Dort soll die hochschwangere Mandy M. bereits mehrere Tage zuvor von ihrem Lebengefährten getötet worden sein. Das ungeborene Mädchen starb bei dieser Tat ebenfalls. Das war im Juni.

Birgit Jürgens erinnert sich auch noch an ihren ersten Tatort, damals vertrat sie einen Kollegen, arbeitete selbst noch in einer anderen Abteilung. „Erweiterter Suizid“, hieß es, als sie losfuhr. Der Familienvater und zwei Kinder waren tot, die Mutter überlebte, erinnert sie sich. Mit all diesen Bildern muss die Oberstaatsanwältin leben, darf die Gedanken daran aber nicht nach Hause tragen: „Dann könnte ich nicht mehr schlafen und wäre falsch hier. Das wäre auch nicht professionell“, sagt Birgit Jürgens, gesteht gleichwohl: „Es sind schreckliche Szenen, denn die Tatorte sind selten so schön wie im Fernsehen.“