Essen. Auch wenn derzeit viele nur ungern darüber reden, um die schöne Stimmung nicht zu stören: Die Flüchtlingswelle wird in einer finanziell so aufgeriebenen Stadt wie Essen negative Folgen haben. Ein Kommentar.
Über 300 Anwohner besichtigten die Zeltstadt für Flüchtlinge in Holsterhausen - eine erstaunliche Zahl. Die Kleiderkammern vieler Einrichtungen sind durch Spenden gut gefüllt, Runde Tische erleichtern ehrenamtlich den Neubürgern vielfach den Einstieg. Die Hilfsbereitschaft, die positive Neugierde, all das ist beeindruckend und wird nicht dadurch geschmälert, dass auch die Helfer etwas davon haben: anderen Gutes zu tun gibt ein gutes Gefühl, und mancher möchte auch einfach genauer wissen, wer denn da in die Nachbarschaft zieht.
Nun ist es eine Eigenart vieler deutscher Groß-Debatten und -Ereignisse, dem Überschwang der Gefühle freien Lauf zu lassen und die andere Seite nicht mehr sehen zu wollen. Auch wenn der tüchtige Sozialdezernent Peter Renzel und andere derzeit nur ungern darüber reden, um die schöne Stimmung nicht zu stören: Die Flüchtlingswelle wird in einer finanziell so aufgeriebenen Stadt wie Essen negative Folgen haben, die im Einzelnen noch gar nicht absehbar sind.
Flüchtlinge in DeutschlandMag der Bund auch endlich mehr Geld bereitstellen: Ohne finanzielle und personelle Beiträge der Stadt, die ja schon jetzt oft kaum den Erwartungen ihrer Bürger bei der Servicequalität gerecht wird, kann die Krisenbewältigung nicht funktionieren. Das gilt erst recht, wenn passiert, was Sigmar Gabriel jüngst leichthin daherredete. Deutschland könne jedes Jahr 500 .000 Flüchtlinge („vielleicht auch mehr“) aufnehmen, meinte der SPD-Chef. Dazu ist zu sagen: Integration ist ein hartes Brot, das nicht in der Berliner Politik-Glasglocke, sondern von den Bürgern vor Ort geleistet – und manchmal leider auch erlitten wird.
Noch spürt man, von baulichen Veränderungen abgesehen, in Essen nur wenig von der Flüchtlingswelle. Dass quasi über Nacht in Schonnebeck hundert Bäume abgesägt wurden, weil Äste im Extremfall auf ein dort geplantes Zeltdorf fallen könnten, mögen Außenstehende vor dem Hintergrund weltweiten Leids als Petitesse abtun. Für die Bürger vor Ort bedeutet es einen Einschnitt in ihr Lebensumfeld. In Werden sollte eine Grundschule zum Zweitstandort herabgestuft werden, die wegen der unverhofften neuen Schüler nun doch offen bleibt. Das ist schön, aber nicht zum Nulltarif zu haben. Und das städtische Immobilienmanagement ist derart ausgelastet mit der Schaffung von Asylheimen, dass das Abarbeiten anderer wichtiger Bau-Aufgaben vorerst stockt.
In einer Notlage müssen Bürger vieles hinnehmen, keine Frage. Aber die große Politik – das gilt nicht nur für Gabriel – wäre gut beraten, die Grenzen der Belastbarkeit besser nicht auszureizen.