Essen. . Waltraud Sterzl ist stolze Ururoma. Doch die vier Frauen und ein Baby feiern bald einen besonderen Tag: Dann trennen sie genau 22 Jahre.
Waltraud Sterzl hat sich für den Termin mit der Zeitung extra schick gemacht: Das Haar frisch onduliert, Perlenkette, Ohrringe und Ring perfekt aufeinander abgestimmt, sitzt die 87-Jährige am Gartentisch in Katernberg und hört aufmerksam dem lebhaften Gespräch ihrer Nachkommen zu: Mit am Tisch sitzen Tochter Erika, Enkeltochter Melanie, Urenkelin Justine und Ururenkel Finn Milo. „Wahrscheinlich bin ich die einzige Ururgroßmutter Essens“, sagt die Borbeckerin mit hörbarem Stolz in der Stimme und schaut liebevoll ihren fünf Wochen alten Ururenkel an: „Dass ich das noch erleben darf“, seufzt sie und strahlt übers ganze Gesicht.
„Finn Milo ist ein wenig aus der Reihe getanzt“, sagt Oma Melanie Kröger (43). Zumindest was das Geschlecht angeht. Denn alle fünf Generationen, die sich an diesem Nachmittag in ihrem kleinen Garten an der Schalker Straße versammelt haben, trennen 22 Jahre. Fast. „Genauer gesagt ist der 23. Mai 2016 unser großer Festtag“, erklärt Erika Kuhlmann (65), „das ist der einzige Tag, an dem wir auf den Punkt 88, 66, 44, 22 und Null Jahre alt sind.“ Klar, dass an diesem besonderen Datum die gesamte Familie zusammenkommt und den schmalen Garten bis auf den letzten Platz füllt. Denn die Sterzls, Kuhlmanns und Krögers sind ausgesprochen kinderreich.
Eine fruchtbare Reihe
Vier Söhne und zwei Töchter hat Waltraud Sterzl großgezogen, das war in der Nachkriegszeit nicht immer einfach. „Aus allen ist was Ordentliches geworden“, sagt sie, „und dafür bin ich sehr dankbar.“ Tochter Erika Kuhlmann hat drei Kinder, Enkelin Melanie Kröger ist vierfache und Justine frischgebackene Mutter.
„Ich hab’ das mit dem Kind nicht so wirklich geplant, aber auch nicht verhindert“, gibt die 21-Jährige unverblümt Auskunft über die Fortführung der fruchtbaren Reihe, vor der sie sich früher eigentlich immer gewehrt hatte. Bis sich Finn Milo anmeldete. „Vielleicht gibt es so was wie Familienschicksal.“
Mit ihren Piercings und Tatoos scheint die junge Mutter auf den ersten Blick das genaue Gegenteil ihrer Urgroßmutter zu sein, doch den Blick, das Lachen und die Energie hat sie, wie Mutter Melanie und Großmutter Erika, ganz offensichtlich von ihr geerbt.
„Ich bin immer noch viel unterwegs“, sagt Waltraud Sterzl und berichtet von exzessiven Kniffelwettbewerben („mein Lieblingsspiel“), regelmäßigen Kaffeerunden mit ihren Kegelschwestern und – mit einem charmanten Augenzwinkern – vom Höhepunkt ihrer Woche: „Am Freitag frühstücke ich gemeinsam mit acht Männern. Und alle acht verabschieden sich von mir mit Wangenküsschen. Darauf freue ich mich die ganze Woche.“
Was kommt, das kommt
Ihr Lebensmotto ist pragmatisch und irgendwie auch ruhrgebietstypisch: „Ich sage immer: Was kommt, das kommt. Ich kann es eh nicht ändern.“ Den Arzt besucht sie nur im äußersten Notfall und Jammern ist ihr fremd. Stattdessen genießt sie jeden guten Tag, den der liebe Gott ihr schenkt.
Pragmatisch nimmt auch Tochter Erika ihr Leben in die Hand: Sie gehörte zu den „Schleckerfrauen“, die ihren Arbeitsplatz nach der Pleite der Drogeriekette verloren haben. „Kurz vor der Schließung bin ich sogar noch überfallen worden“, erzählt die gelernte Friseuse, „Gott sei Dank ist mir dabei nichts passiert.“ Mit ihrem Rentendasein kommt sie gut klar, hat jetzt Zeit für ihr Hobby Trödelmärkte. Und natürlich für die Familie. Denn die Sterzls, Kuhlmanns und Krögers eint nicht nur die Blutsverwandtschaft. „Wir halten zusammen“, sagt die Ururoma, „das ist doch selbstverstämdlich.“