Essen. Das Jugendstück „Ich rufe meine Brüder“ sorgt im Schauspiel Essen für eine intensive Auseinandersetzung mit Vorurteilen und vorschnellem Verdacht.

Das Thema Terror bestimmt dieser Tage den Spielplan des Schauspiel Essen. Nach „Wir sind die Guten“, Hermann Schmidt-Rahmers wuchtiger Angst-Abrechnung zwischen Pegida und IS, einen Tag später gleich „Ich rufe meine Brüder“. Jugendtheater im Zeichen der Bedrohung. Hier dominiert freilich nicht die Furcht vor dem Fremden. Hier fürchtet sich ein Fremder. Vor den Blicken, den Vorurteilen, vor einer Welt, die zunehmend in Klischees denkt und Menschen nach der potenziellen islamistischen Bedrohung einteilt. Der schwedisch-tunesische Autor Jonas Hassen Khemiri hat das Stück unter dem Eindruck eines Attentats 2010 in Stockholm geschrieben.

Im Mittelpunkt steht Amor. Und der Moment, der alles ändert. In der City ist eine Autobombe explodiert, während Amor tanzen war. Der Attentäter könnte einer wie Amor sein. Nun flackern die Anrufe auf seinem Handy. „Alter, melde dich!“ Wollen sie ihn warnen? Oder hat sein Kumpel Shavi, der Langweiler, nichts Besseres zu tun, als ihn zu nerven? Amor weiß bald nicht mehr, was draußen vor sich geht oder ob das alles nur in seinem Kopf geschieht. Amor weiß nur einen Rat: „Ich rufe meine Brüder.“

Intensives Kopfkino mit wenigen Kulissen

Khemiris doppelbödiges Spiel mit der gesellschaftlichen und der persönlichen Paranoia ist keine ganz einfache Ausgangslage für ein Jugendstück, das bei Weitem nicht nur Problemstück ist. Immer wieder kippelt die Erzählung fast übergangslos und nicht ohne Humor zwischen Amors Vorstellungswelt und der Realität. Wird er überwacht? Werden die Polizisten, die das Auto mit dem ausländischen Kennzeichen kontrollieren, gleich den Knüppel rausholen oder dem Fahrer nur den Weg erklären? Wird der Blick von außen Amor irgendwann zu dem machen, was er gar nicht ist: ein Amokläufer? Und ist Valeria eine alte Flamme oder nur eine fixe, romantische Idee?

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Regisseurin Katarzyna Maria Noga macht daraus intensives Kopfkino mit wenigen Kulissen. Ein Stahlgerüst, ein paar Metall-Quader, Schattenspiele und Schwarzlicht-Szenen müssen genügen auf diesem Figuren-Spielfeld (Bühne/Kostüme: Anne Koltermann), um Amors Gedankenwelt zu flankieren. Den Rest erledigt Thomas Meczeles ungemein präsentes Spiel. Er ist kein „Bruder“ qua Herkunft und Hautfarbe und doch ganz dringlich in seinem selbstzweiflerischen Sein als Außenseiter, in seiner jugendlichen Identitätssuche.

Katarzyna Maria Noga besetzt das Stück damit bewusst gegen implizierte Klischees und Erwartungen. Es gibt auch keine übermäßige Anbiederung an Jugend-Jargon, keine überdrehten Effekte und flachgeklopften Gags. Und trotzdem kommt das schwierige, monologreiche Thema noch spielerisch leicht und temporeich daher. Philipp Noacks Shavi ist dabei ein knuffiger Bruder Leichtfuß, als Amors bester Kumpel und junger Vater im Aufgabendauerkonflikt. Flora Pulina gibt der buddhistisch-angehauchten Cousine Ahlem einen ebenso warmherzigen Ton wie der toten Großmutter, die Amor später am Telefon hat. Und Lisan Lantins Valeria ist eine Verlockung, für die nicht nur einer wie Amor manche Dummheit anstellt. Vier Spieler, vier Stimmen, die „Ich rufe meine Brüder“ zum wichtigen Plädoyer gegen die falschen Bilder im Kopf macht.