Essen. . Demente Menschen laufen regelmäßig weg. Manchmal muss deshalb die Polizei ausrücken. Für Pflegeeinrichtungen sind „Spaziergänger“ ein großes Problem.

Wenn in Pflegekreisen über Spaziergänger gesprochen wird, dann ist das eigentlich ein Euphemismus. Tatsächlich sind damit demente Bewohner gemeint, die zumindest zeitweise nicht auffindbar sind. In der Regel werden diese Menschen auf einem weit verzweigten Krankenhausflur gefunden, manchmal sitzen sie aber auch am Tresen ihrer ehemaligen Stammkneipe oder wandern zum Werkstor ihres alten Arbeitgebers. In einigen Fällen endet ein solcher „Spaziergang“ mit einer blutigen Nase oder einer gebrochenen Hüfte. Gelegentlich muss auch die Polizei ausrücken, um die verwirrten Patienten wieder einzusammeln.

Im vergangenen Jahr galten in Essen circa 1.300 Personen als vermisst. Ein nicht zu bestimmender Teil davon war dement, wie Polizeisprecher Lars Lindemann erklärt. Zwar gibt es keine genauer aufgeschlüsselten Zahlen, doch Hans-Georg Nehen, Klinikdirektor im Haus Berge, bestätigt gegenüber der NRZ, dass demente Patienten „häufig weglaufen“. Dass dabei so wenige Unfälle passieren, überrascht sogar den Chefarzt. „Diese Menschen stehen an der Ampel und wenn die anderen laufen, gehen sie auch los.“

Unterschwellige Drohungen

Für Pflegekräfte ist dieser Bewegungsdrang ein ernstes Problem. Das Gesetz verbietet die Fixierung ans Bett oder den Einsatz von Gittern. Gleichzeitig gibt es meistens zu wenig Personal, um alle Patienten rund um die Uhr überwachen zu können. Angehörige berichten, dass deshalb in einigen Heimen leere Betten vor die Zimmertüren von dementen Bewohnern geschoben werden. In anderen Häusern sollen Blumenkübel vor das Treppenhaus gestellt worden seien, um Demenzpatienten den Weg zu blockieren.

„Bei uns kann sich jeder Bewohner frei bewegen. Fixiert wird hier schon seit Jahren nicht mehr. Das ist ein festes Prinzip“, versichert Martina Urban, Mitarbeiterin im Sozialen Dienst des Friedrich-Ebert-Zentrums. Es sei aber auch schon vorgekommen, dass Angehörige explizit eine Fixierung verlangt hätten. Zuletzt erst vor wenigen Wochen. „Die Angehörigen haben berichtet, dass sie das aus dem Krankenhaus kennen und das so sicherer wäre. Mich hat das sehr verwundert. Die Amtsgerichte haben da ja eine eindeutige Haltung.“

Martina Urban führt in solchen Fällen lange Gespräche mit den Angehörigen. Nicht selten sind Familien mit der Pflege ihrer Verwandten überfordert. Manchmal wurde ihr schon unterschwellig gedroht, falls „dem lieben Schwiegervater“ etwas passieren sollte. Hans-Georg Nehen weiß aus seinen Gesprächsgruppen, dass manchen Angehörigen gelegentlich die Hand ausrutsche, wenn „Papa“ wieder etwas vergessen hat.

Wie heikel das Thema ist, zeigt sich auch daran, dass nicht alle medizinischen Einrichtungen für ein Gespräch mit der NRZ bereit waren. Bei den Kliniken Essen-Mitte fand sich kein Arzt, der sich zu der Thematik äußern wollte. Und auch aus dem Universitätsklinikum gab es nur Absagen. Vielleicht lag dies auch daran, dass erst vor drei Wochen ein 81-jähriger Mann nachts aus einem Krankenhaus „spazierte“ - bekleidet nur mit Schlafanzug und Hausschuhen. Passanten hatten den Senior schließlich gefunden.

Gewohnte Strukturen

Hans-Georg Nehen erklärt sich derartige Vorfälle damit, dass Patienten mit einer leichten und mittelschweren Demenz nicht immer gleich erkannt werden. Einigen Angehörigen seien die Eigenarten ihres Verwandten auch peinlich, weshalb sie regelmäßig verschwiegen werden. Nach Ansicht von Nehen sind etwa 20 Prozent aller über 70-Jährigen von Demenz betroffen. Bei den über 90-Jährigen ist es sogar jeder zweite. „Wir haben bei uns ganz spezielle Strukturen geschaffen, den gesamten Behandlungsablauf umgestellt, um den Patienten jeglichen Stress zu ersparen“, sagt der Chefarzt.

So werden Demenzpatienten in seinem Haus etwa beim Röntgen bevorzugt behandelt, damit sie schon vor dem Frühstück wieder in ihrem Bett liegen. Dies sorge für eine gewohnte Struktur im Tagesablauf. Klinikleiter Hans-Georg Nehen hat einen Fragenkatalog an seine Mitarbeiter ausgegeben, mit dem Patienten auf typische Anzeichen einer Demenzerkrankung geprüft werden. Außerdem hat er sein Team auf eine Schulung geschickt. „Als erstes lernen die, dass man bei Demenz nicht an die Vernunft appellieren kann. Besser ist es, den Patienten zu sagen, ich bin hier, ich helfe ihnen, jetzt gehen wir gemeinsam zu ihrem Zimmer.“ Nach Meinung des Experten befinden sich Demenzpatienten häufig auf der Suche nach ihrem alten Zuhause – schließlich sei da alles irgendwie besser gewesen.

Spaziergänger gezielt lenken

Für Maria van Elsbergen, Heimleiterin im Ernestinenhof, leben Demenzpatienten zumindest phasenweise in einer eigenen persönlichen Welt. Dadurch habe der „Spaziergang“ für diese Menschen einen spezifischen Sinn, den man durch Therapien herausarbeiten müsse. „Wesentlich ist es, den Bewegungsdrang beaufsichtigt leben zu lassen und durch liebevolles Fragen zu lenken und dadurch letztlich den Wunsch zu wecken, zurück in den Wohnbereich zu wollen.“

Auch Hans-Georg Nehen sieht das so. Seiner Meinung nach bräuchte es für eine optimale Behandlung allerdings drei bis fünf Prozent mehr Klinikpersonal. Für besonders hilfreich hält er so genannte Begleitschwestern, die in anderen Städten bereits getestet werden. In einem Münsteraner Krankenhaus konnten seinen Angaben zufolge die Komplikationen bei Demenzpatienten um 80 Prozent gesenkt werden.

„Wir reden hier schließlich über uns“, pflegt er bei Diskussionen über Budgets meistens zu sagen. „In zehn Jahren kann es uns auch treffen.“ Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Vor allem auch deshalb, weil es keine einheitlichen Vorgaben von höherer Stelle gibt. So gibt es etwa bei der Polizei keinen gesonderten Maßnahmenkatalog für „Spaziergänger“. Gleichzeitig ist Demenz in einigen Bereichen der Gesellschaft noch immer ein Tabuthema.