Essen. Zu wenig Förderlehrer, zu knappe Budgets: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sieht Verbesserungsbedarf bei der Inklusion an Essener Schulen.
„Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.“ Zwar wusste Kurt Tucholsky noch nicht, mit welchen Problemen man sich in Nordrhein-Westfalen einmal herumschlagen würde, wenn Bildungspolitiker den hehren Anspruch hegen, allen Schülern die gleichen Chancen zu ermöglichen – auch jenen mit Förderbedarf. Doch wenn es nach der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) geht, trifft genau dies den Kern der Sache. Seit August 2014 haben Kinder mit geistigen oder körperlichen Behinderungen den Rechtsanspruch, eine Regelschule besuchen zu dürfen. Grundsätzlich ein Schritt in die richtige Richtung; da sind sich Politik und Schulvertreter weitgehend einig. Doch hapert es auch in Essen noch an der Umsetzung.
Optimale Unterrichtsvoraussetzungen für Kinder mit und ohne Förderbedarf umfassen nach pädagogischer Fachmeinung überschaubare Klassengrößen sowie eine personelle Verstärkung der Stunden durch Sonderpädagogen, die Schüler mit Förderbedarf während des Unterrichts zusätzlich unterstützen.
Resoluter Sparkurs
Doch diese Doppelbesetzung findet immer seltener statt, klagt auch Julia Gajewski, Leiterin der Gesamtschule Bockmühle: „Als man in NRW mit der Inklusion begonnen hat, wurde jeder Klasse ein Förderlehrer zugewiesen. Allerdings ist der Bedarf stetig gestiegen, da viele Kinder erst im Laufe ihrer Schulzeit als förderbefürftig eingestuft werden“, sagt die Pädagogin. „Wenn mal zwei Förderlehrer bei uns gleichzeitig krank werden, stellt uns das vor ernsthafte Probleme. Die ständigen Kürzungen bringen uns an unsere Grenzen.“ Die Kommunen nimmt sie hierbei klar aus der Schusslinie, verantwortlich für eine angemessene Budgetierung sei einzig die Landesregierung, die einen resoluten Sparkurs fahre.
Dabei funktioniert hier an der Gesamtschule Bockmühle im Großen und Ganzen schon recht gut, was Pädagogen als modernes Bildungsideal hochhalten: Kinder mit und ohne Förderbedarf lernen gemeinsam – sie haben den gleichen Unterricht und verfolgen doch unterschiedliche Lernziele. Die „zielgleichen“ Schüler, wie es im Fachjargon heißt, arbeiten hierbei an einem übergeordneten Unterrichtsziel, während die „zieldifferenten“ Schüler auf einem anderen Leistungsniveau arbeiten und teilweise kleinere Lernziele erreichen müssen.
Die NRZ besucht eine 8. Klasse an der Gesamtschule in Altendorf. In der ersten Stunde steht Deutsch auf dem Stundenplan. Sechs Kinder mit Förderbedarf lernen hier gemeinsam mit ihren zielgleichen Klassenkameraden, wobei die Sechs in ihren „Defiziten“ unterschiedlicher kaum sein könnten: Ein autistischer Schüler wird zusätzlich von einem sogenannten Integrationshelfer betreut. Als die Fotografin die Kamera zückt, reagiert der Junge beunruhigt, die ungewohnte Situation überfordert ihn offenbar. Der junge Mann muss ihn für einen Moment aus dem Unterricht nehmen. Eine ganz alltägliche Situation in einer Inklusionsklasse.
„Förderschulen sollten erhalten bleiben“
Ein Mädchen ist sehbehindert. Für sie ist eine spezielle Leselampe an ihrem Schreibtisch befestigt. „Extra für sie schreiben die Lehrer nur in großen, gut leserlichen Druckbuchstaben“, erklärt Sonderpädagogin Elvira Fritzsche. „Das ist Teil des Inklusionskonzeptes.“ Zwar geht es zuweilen recht lebhaft in der Klasse zu, doch kann Fritzsche bei einzelnen Schülern immer wieder für Ruhe sorgen, wenn jemand aus der Reihe tanzt – soll ein Regellehrer den Unterricht allein stemmen, fällt es ihm oft schwer, den Kindern mit Förderbedarf gerecht zu werden und gleichzeitig für Ruhe zu sorgen, berichtet Gajewski: „Schon ein schwieriges Kind kann eine gesamte Unterrichtsstunde sprengen, wenn man die Situation nicht unter Kontrolle bekommt. Ein Sonderpädagoge kann da schon Unterstützung leisten.“ Zumal angehende Lehrer an der Uni heute nicht einmal ansatzweise auf die Herausforderungen der Inklusion vorbereitet würden.
Inklusion um jeden Preis lehnt Gajewski dennoch ab: „Nicht für jedes Kind ist eine inklusiv arbeitende Schule die beste Lösung. Für manche ist schon das große Gebäude und die Vielzahl der Bezugspersonen eine Überforderung, einige Schüler brauchen einfach einen kleineren Rahmen.“ Bei allen Vorteilen, die Inklusion zweifellos mit sich bringe, sollten die Förderschulen schon deshalb erhalten bleiben.
Erste Erfolge sichtbar
Doch insgesamt trägt das Prinzip Inklusion an der Gesamtschule Bockmühle erste Erfolgsfrüchte, so wurde bei einer Achtklässlerin der Förderbedarf gerade aufgehoben – voraussichtlich wird sie somit einen normalen Hauptschulabschluss machen können.
Die Schüler der Klasse 8 an der Gesamtschule Bockmühle finden das gemeinsame Lernen derweil offenbar gut. „Es ist toll, dass bei uns niemand gemobbt wird. Jeder wird auch mit seinen Schwächen akzeptiert“, kommentiert ein Mädchen auf Nachfrage der Lehrerin. So hat die 14-Jährige ein Grundprinzip der Inklusion schon verstanden – jetzt liegt es an den Erwachsenen, die Rahmenbedingungen zu schaffen.