Essen. Zehn Jahre Hartz IV: Eine Betroffene erzählt, wie ihr Mann und sie sich seit Jahren von Job zu Job hangeln und dennoch nicht aus der staatlichen Hilfe herauskommen.
Amina K. (Name von der Redaktion geändert) hat lange überlegt, ob sie ihre Hartz-IV-Geschichte erzählen will. „Ich bin nicht so stark wie andere, die das öffentlich machen“, sagt sie. Auch ihr enges Umfeld weiß nichts davon, dass ihre fünfköpfige Familie seit Jahren schon von staatlicher Hilfe lebt. Vor allem um ihre drei Kinder macht sich die Frau, Anfang 40, Sorgen.
„Ich will nicht, dass meine Kinder mit dem Stempel herumlaufen müssen.“ Die Erfahrung in der Schule hat sie diese Vorsicht gelehrt. Mitschüler ihrer Kinder, deren Eltern offen damit umgehen, würden ausgrenzt. „Sie werden nicht mehr auf Geburtstage eingeladen“, sagt sie. Amina K. hat sich dennoch entschlossen, ihr Schicksal zu erzählen. Voraussetzung: Ihr richtiger Name wird nicht genannt.
Geflüchtet aus dem Kosovo
Amina flüchtete 1998 aus dem Kosovo mit ihrem damals zwei Jahre alten Sohn. Ihr Mann war schon seit zwei Jahren in Essen. Die junge Frau hatte das Abitur in der Tasche und eine einjährige Ausbildung als Friseurin. Ihr Mann als Bauzeichner. „Ich war sehr glücklich, in ein sicheres Land zu kommen und wieder lächelnde Gesichter zu sehen.“ Sie lernte schnell Deutsch – und weil drei Monate im VHS-Kurs zu wenig waren, lieh sie sich Kinderbücher aus.
Zehn Jahre lang kämpften sie und ihr Mann um eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Zwei weitere Kinder wurden geboren, die jungen Eltern schlugen sich mit Aushilfsjobs durch, die sie nur deshalb bekamen, weil kein Deutscher die Stellen haben wollte. Er arbeitete in Eiscafés, sie erst bei einem Friseur, später als Haushaltshilfe. „Unsere Aufenthaltserlaubnis wurde immer nur um ein oder zwei Wochen verlängert, ich konnte irgendwann nicht mehr.“ Damals habe ihr die Religion geholfen, über die schwere Zeit hinwegzukommen. seither trägt Amina K. auch ihr Kopftuch.
Den kleinen Lohn stocken sie mit Hartz IV auf
Als sie 2008 ein dauerhaftes Bleiberecht bekamen, fanden beide Arbeit in einer Konditorei. 400-Euro-Jobs. Offiziell waren sie drei Tage pro Woche zwei Stunden angestellt, in Wirklichkeit arbeiteten sie oft länger. Den kleinen Lohn stockten sie mit Hartz IV auf. „Für mich war es immer selbstverständlich zu arbeiten. Ich will Vorbild für unsere Kinder sein“, sagt Amina. Sie habe nie verstanden, warum der Staat Leute fürs Nichtstun bezahlt, obwohl sie arbeiten können. „Diese Logik begreife ich nicht.“
Ihre Arbeit habe sie sich immer selbst gesucht. Wenn sie im Jobcenter nach Stellen fragte, „hatte ich nicht das Gefühl, dass man sich ernsthaft kümmert“.
In der Konditorei hatten die Eheleute die Hoffnung, irgendwann mehr Stunden arbeiten zu dürfen. Stattdessen wurde beiden gekündigt, als sich Amina K. das erste Mal krank meldete. Peter Gerold von der Neuen Arbeit der Diakonie hört solche Berichte von Mini-Jobbern immer wieder: „Obwohl sie Anspruch auf Fortzahlung im Krankheitsfall oder Urlaubsgeld haben, wird dies nicht gezahlt.“
Die Kinder sollen es einmal leichter haben
Ihr Mann schlug sich seither als Helfer am Bau durch. Amina K. kam 2012 im geförderten Projekt „Stadtteilmütter“ unter, und kümmerte sich auch anschließend in einer Schule weiter um die Integration von Migranten.
Seit September sucht sie nun wieder Arbeit. Von 750 Euro – ohne Miete und Heizung – musste die Familie zuletzt im November leben, weil der Mann noch auf seinen Lohn wartete. Wie sie mit ihrem Geld über die Runden kommen? „Ich brauche nicht viel“, sagt Amina. Nur ihren Kindern würde sie gerne Nachhilfeunterricht bezahlen, damit sie es mit einem guten Schulabschluss einmal leichter haben. Sie hätte gern auch mehr Geld, um am Wochenende mit den Kindern ins Kino oder in den Zoo zu gehen. Der einzige Wunsch für sich wäre eine Arbeit, von der sie auskömmlich leben kann. „Ich würde gerne mit Kindern oder Flüchtlingen arbeiten.“
Für Gerold ist die Geschichte von Amina K. eine, wie sie viele in Essen erzählen könnten: „Wir erleben hier sehr viele motivierte Leute, die ziemlich verzweifelt sind, weil sie keinen Boden unter die Füße bekommen.“
Hartz IV: 14.600 Essener müssen Lohn aufstocken
Wenn die eigene Arbeit nicht zum Leben reicht: Dieses Schicksal trifft in Essen von Jahr zu Jahr mehr Arbeitnehmer. Sie müssen ihren Lohn mit Hartz IV aufbessern, werden im Beamtendeutsch Ergänzer genannt. Viele sind Mini- oder Teilzeitjobber.
Die umstrittene Jahrhundert-Reform
Am 1. Januar 2005 startete mit Hartz IV die größte und umstrittenste Sozialreform der Nachkriegszeit. Ihr Name geht auf ihren „Erfinder“, den ehemaligen VW-Manager Peter Hartz zurück.
Damals wurden Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II, Hartz IV, zusammengelegt. In Essen kamen so rund 20 000 arbeitslose Sozialhilfeempfänger und rund 8000 Arbeitslosenhilfe-Bezieher in die Obhut des neu geschaffenen Jobcenters.
Der Hartz-IV-Satz steigt 2015 um gut zwei Prozent. Alleinstehende erhalten 399 Euro und damit 8 Euro mehr als bisher; plus Kosten für Miete und Heizung.
Fördern und fordern sollte das Prinzip von Hartz IV sein. Auf der einen Seite müssen Arbeitslose zumutbare Jobs annehmen. Auf der anderen Seite soll sich das Jobcenter intensiver um Vermittlung und Qualifizierung kümmern. Sozialverbände kritisieren jedoch, dass die Jobcenter vor allem verwalten statt zu fördern.
In diesem Jahr mussten rund 14 600 Essener ihren Lohn mit Hartz IV aufstocken. Das sind fast 5000 Betroffene mehr als im Jahr 2007. Für die Jahre 2005 und 2006 liegen keine statistischen Daten vor. „Die Zahl ist erschreckend“, sagt der Leiter des Jobcenters, Dietmar Gutschmidt. Der Fokus der Behörde liege deshalb besonders auf den Ergänzern, um ihnen auf lange Sicht ein auskömmliches Einkommen zu ermöglichen. „Arbeit muss sich wieder lohnen“, fordert er. Ob der Mindestlohn ab 1. Januar dazu beiträgt, ist sich Gutschmidt nicht sicher. Im Moment rechnet er eher damit, dass die Zahl der Ergänzer im kommenden Jahr steigt, weil sich auch der Regelsatz für Hartz IV erhöht.
Auch Sozialdezernent Peter Renzel ist skeptisch, ob der Mindestlohn die Lage spürbar verbessert. „Wir müssen davon ausgehen, dass sich ein Teil der Ergänzer mit ihren Mini-Jobs und Hartz-IV-Geld eingerichtet haben“, und somit keinen Anreiz verspüren, einer besser bezahlte Arbeit anzunehmen oder länger zu arbeiten. Arbeitsmarktexperten sagen dagegen auch, dass das Anwachsen des Niedriglohnsektors nicht erst mit Hartz IV eingesetzt hat, die Reform jedoch den Druck auf Arbeitnehmer erhöht hat, prekäre Beschäftigung anzunehmen.