Essen. Weihnachten feiert Richard Müller traditionell im Wohnwagen. Der Essener Schausteller kümmert sich mit Akribie um die nostalgischen Gefährte.
Die Vergangenheit riecht nach Möbelpolitur und Pfeifentabak. Richard Müller zieht die Kappe aus der Stirn und lässt den Blick durch die wenigen Quadratmeter Kindheit schweifen. In diesem alten Wohnwagen aus den 1950ern hat er als Knirps mal seine Märklin-Eisenbahn zu Weihnachten geschenkt bekommen. Im neuen Wohnwagen wird er heute Heiligabend feiern. 50 Jahre Lebensgeschichte stehen sich da vis-à-vis auf einem Gewerbehof in Altenessen gegenüber. In dem einen Wagen ist er groß geworden, in dem anderen wird er alt werden, das ist für den 50-Jährigen ganz sicher. Denn Müller ist Schausteller mit Leib und Seele. Und Tradition ist ihm nicht nur zu Weihnachten ein wichtiger Begriff.
Deshalb hat er irgendwann nicht nur beschlossen, den alten Holzpfostenscooter zurückzuholen, den sein Vater in den 1970ern verkauft hat. Er hat auch den Wohnwagen seiner Kindheit wieder liebevoll restauriert. „Die Schrankwand hat das damals noch zusammengehalten“, erinnert sich Müller an den desolaten Zustand des nostalgischen Gefährts. Heute spannt sich an der Decke goldene Ornamenttapete, den Sekretär ziert eine mechanische Schreibmaschine, und auf der Kommode stapeln sich alte Fotos, Dokumente und Zeitungsausschnitte, die Müller in Folien geheftet hat. „Enthauptung machte den Vater weltberühmt“, steht da in einer Schlagzeile von 1973 und Müller schmunzelt. „Meine Oma wurde dreimal am Tag geköpft, aber richtig erklärt hat sie mir den Trick nie.“
„Das ist mein Leben, ich brauche das“
Seit 1630 ist das Schausteller-Gewerbe Familientradition, schon Urgroßvater Oskar Winterhalter reiste mit seinem Illusionspalast durchs Land, und Richard Müller hat nie etwas anders machen wollen. „Das ist mein Leben, ich brauche das.“ Und als es seinem Vater gesundheitlich schlechter geht, ist es für Müller auch keine Frage, den Betrieb Ende der 1980er zu übernehmen: „Da war ich von jetzt auf gleich Chef.“
Die Eltern leben damals noch in dem alten Vehikel, das Müller mit Akribie und viel Handarbeit zu einem Ausstellungsstück gemacht hat. „Nur den Küchenwagen konnte ich nicht retten“, bedauert er und blickt zurück. Weil die Familie in dem einen schmalen Gefährt nicht genug Platz fand, wurden damals mehrere Wagen hintereinander gespannt. Weihnachten war die Reihe besonders lang, da konnte der kleine Richard dann vom Wagen der Oma bis zu den Onkels durchlaufen und die Geschenke einsammeln.
Müller spricht nicht von Enge, sondern von Nähe, wenn er vom Leben in diesem Kleinod erzählt. Nicht mal seine Frau Astrid, die nicht in einer Schausteller-Familie groß geworden ist, würde noch tauschen wollen. Die große Freiheit, die sie beschwören, die kann man eben auch auf 48,5 Quadratmetern finden. Dabei weiß Müller von den Schattenseiten dieses Lebens. Seine große Schwester Erika kommt in den 90ern nach einer Verpuffung im Wohnwagen ums Leben, weil sie im letzten Moment noch den Hund retten will und dann am giftigen Qualm erstickt.
Aktiv in vielen Verbänden
Richard Müllers Leidenschaft gehört den nostalgischen Fahrgeschäften. Er gehört zu den Mitbegründern der Historischen Gesellschaft Deutscher Schausteller, die Liebhaberstücke von der alten Schiffschaukel bis zum „Hau den Lukas“ erhält.
Neben dem Vorsitzenden Albert Ritter ist Müller auch als 2. Vorsitzender beim Essener Schaustellerverband aktiv.
Müller schluckt, wenn er von diesem Schicksalsschlag erzählt. Und trotzdem kann er sich nicht erklären, warum viele Kollegen heute in eine richtige Wohnung ziehen. „Der Wohnwagen ist mein Zuhause, egal wo ich bin.“ Seinen selbst restaurierten „Oldtimer“ nimmt er auch mit zu Ausstellungen. Die Menschen sollen sehen, wie das war, als Karussells noch nicht tausend Umdrehungen pro Minute machten und die robusten Mägen eines Astronauten erforderten. Damals, als die Kirmes für viele noch der Freizeit-Höhepunkt des Jahres war – auf den hingespart wurde. „Wir haben schon mehr zu kämpfen als in den 90ern“, räumt Müller ein, aber er hält dagegen mit Willen und Traditions-Bewusstsein. Dem Sohn hat er erklärt, dass Schaustellersein eine Passion ist, „24-Stunden-Stand-by“. „Man muss das leben“, sagt Müller. Nichtstun kann er eben nicht. „Eigentlich ist mir am 2. Weihnachtstag schon wieder langweilig.“