Essen. Das Versammlungsrecht ist ein hohes Gut und manchmal ein zweischneidiges Schwert. Über Möglichkeiten und Gefahren diskutierten bei „Essen kontrovers“ von NRZ und der Volkshochschule Experten und Zuschauer.
Heiko Müller hat Todesangst. 1996 steht der Polizist demonstrierenden Kurden auf der Autobahn in Elten gegenüber. Er ist einer der Männer, die die Demokratie schützen sollen. Sie ist freiheitlich, deshalb muss er wehrhaft sein. In der allerersten Reihe blickt er in den Lauf von Schusswaffen. „Da hatte ich Todesangst und es war ein Erlebnis, an dem ich lange geknabbert habe“, gesteht der Kreisvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in Essen. An die schrecklichen Ereignisse der Startbahn-West-Proteste knapp zehn Jahre zuvor habe er sich in diesem Moment erinnert gefühlt. Zwei seiner Kollegen wurden damals erschossen.
Doch auch Demonstranten haben in diesem Land für ihre Überzeugungen auf der Straße ihr Leben gelassen, lehrt die Vergangenheit. Und der Blick auf Gegenwart und Zukunft verstört nicht minder. Inzwischen ziehen neue Phänomene um den Block, die – alte Fronten verwischend – mit einem allzu sterilen Demokratieverständnis weder zu fassen noch in den Griff zu kriegen sind. Selbst Essens Polizeipräsidentin bekennt: „Mir macht die Mischung, die jetzt auf die Straße geht, Sorge. Das wird der Prüfstein für eine wehrhafte Demokratie sein.“
„Wie weit geht die Versammlungsfreiheit?“
Was Stephania Fischer-Weinsziehr meint, schimpft sich lautstark Pegida, Hogesa, Dügida, vielleicht bald auch Esida. „Es gibt ganz neue Wörter in Deutschland“, stellt Moderator Thomas Becker am Mittwoch bei der Diskussionsrunde „Essen kontrovers“ von NRZ und VHS in der Volkshochschule am Burgplatz fest. Vier Diskutanten und 70 Zuhörer versuchen an diesem Abend eine Antwort auf eine der vielleicht spannendsten gesellschaftspolitischen Fragen dieser Zeit zu finden: „Wie weit geht die Versammlungsfreiheit?“
Nun, man könnte es bei einer ziemlich simplen Antwort belassen: Das hochgeschätzte Grundrecht endet genau da, wo Straftaten begangen werden. Doch so einfach will und kann es sich Gerd-Ulrich Kapteina als energisch kritischer Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Düsseldorf nicht machen. Die Realität ist nicht so, weil sie eine andere ist. In der Justiz und auf der Straße. Und es kommt eine weitere Dimension hinzu: Wie lässt es sich zuverlässig verhindern, dass jene Zeitgenossen, die genau die Freiheit, die der Staat ihnen zugesteht, radikal ausnutzen wollen, um möglichst viele Gesinnungsgenossen für die Abschaffung derselben zu gewinnen? Gar nicht.
Wenn Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte etwa in einer NPD-Demo an einem geschichtsträchtigen 9. November eine Gefahr für die öffentliche Ordnung sehen, erlaubt die letzte Instanz den Aufmarsch ohne jede Begründung. Das ist passiert. Die Prognose und allgemeine Befürchtungen allein, sollten sie sich im Nachhinein selbst im Dutzend bewahrheiten, reichen Karlsruhe eben nicht aus.
Fließende Grenzen
Für Kapteina ist das eine „spezielle Auffassung des Bundesverfassungsgerichts“ und „einer der dramatischsten Konflikte“ in der Justiz: „Selbst Juristen sind sich da häufig nicht einig.“ Sogar wenn es um die Einschätzung geht, ob Straftaten begangen worden sind oder nicht, seien die Grenzen fließend. Und das BVG? „Das geht davon aus, dass unsere Gesellschaft ein breites Kreuz hat, um die Feinde der Demokratie zu ertragen.“
Eine Haltung, die sich weniger an den Realitäten als an den Lehrmeinungen der freiheitlichen Demokratie orientiere. Eine etwas weltfern wirkende Rechtsprechung sei das, in der Kapteina durchaus Gefahren sieht: „Dass wir so prinzipientreu bleiben, dass wir uns am Ende vielleicht auch selbst versenken.“ Daran sei auch die Weimarer Republik zugrunde gegangen. Was ihr folgte, ist bekannt. Deshalb sei es Zeit, über einen neuen Begriff nachzudenken: „die wehrhafte Demokratie“, die, was das Versammlungsrecht angeht, „keine Freiheit für Feinde der Freheit“ gewährt.
Mehr Zivilcourage
Eine Demokratie also, die den Schulterschluss schafft zwischen allen Kräften, die für sie eintreten, die für sie auf die Straße gehen und möglichst viele Bürger mitziehen wollen. Dass das kein einfaches Geschäft ist, weiß Max Adelmann nur zu gut. Als Sprecher des Bündnisses „Essen stellt sich quer“ hat er seine Erfahrungen gemacht – zumal mit der Polizei, die nach seiner Meinung mit zweierlei Maß messe. Adelmann hat so seine Beobachtungen auf der Straße gemacht: So seien Plakate von Holocaust-Leugnern nicht konfisziert worden, nach Heil-Hitler-Rufen habe es keine Festnahmen gegeben. Das sei für ihn eine „nicht erklärliche Polizeitaktik“. Kaum mehr Verständnis bringt der Sprecher von „Essen stellt sich quer“ für das Verhalten eines Einsatzleiters bei den beiden jüngsten Pro-NRW-Demos auf: „Wir wurden vom eigentlich angemeldeten Ort weggeschickt, weil wir angeblich zu nah an Glascontainern standen.“ Die nicht ausgesprochene Botschaft der Polizei habe da wohl geheißen: Da könnte die ein oder andere Flasche zum Wurf verleiten. Adelmann wünscht sich für die Zukunft eine „feinfühlige Offenheit gegenüber Demokraten“, während Stephania Fischer-Weinsziehr und Heiko Müller an mehr Zivilcourage der Bürger appellieren: Die verhüllte Germania in Borbeck und das Läuten der Glocken der Kreuzeskirche zur besten Kundgebungszeit der Rechten, sind für die Polizeipräsidentin kreatives Querstellen.
Trotz zum Teil kontroverser Positionen: Die Versammlungsfreiheit – da waren sich am Ende alle einig – muss extensiv erhalten bleiben für eine außerparlamentarische Opposition in diesem Land, die friedlich ohne Waffen auf die Straße geht und keine Straftaten begeht wie zum Beispiel jener Neo-Nazi, der auf einer Kundgebung den Hitler-Gruß zeigte. Als ein Richter ihn fragte, was er denn mit dieser Geste habe ausdrücken wollen, hieß seine Antwort. „So hoch soll das Gras wachsen.“ Der Mann durfte nach Hause gehen.
Wie weit geht eigentlich das Recht auf Provokation?