Essen. Ein Besuch in der Bodelschwinghschule in Essen-Altendorf zeigt: Ohne Unterstützung sind die wachsenden Herausforderungen vor dem Hintergrund weiter steigender Flüchtlingszahlen für Lehrer allein kaum zu meistern. Viele traumatisierte Kinder brauchen professionelle Hilfe von Psychologen.

Der Weg ins tiefste Innere eines jungen Menschen ist weit. Ihn geduldig – das mögliche Scheitern ständig vor Augen – bis zum Ende durchzuhalten, braucht fast traumwandlerisch sicheres Feingefühl und die unerschütterliche Zuversicht, eines Tages doch noch ans erhoffte Ziel zu gelangen. Doch Vorsicht ist geboten: Zugang zur verborgenen Gefühlswelt eines Flüchtlingskinds zu bekommen, das in einem fremden Land mit einer noch fremderen Kultur und Sprache mit womöglich schrecklichen Erinnerungen im Gemüts-Gepäck strandete, kann Verkapseltes freisetzen und an seelische Abgründe führen.

Hannelore Herz-Höhnke hat tief hinabgeblickt. Nicht nur einmal und nicht nur von Berufs wegen. „Sag mal, wie war’s denn in der Schule in Afghanistan?“, fragte die Leiterin der Bodelschwinghschule in Altendorf einmal einen kleinen Jungen aus dem kriegsgeschüttelten Land. „Es gab keine Schule in den Bergen“, entgegnete der kleine Kerl kurz und knapp, um seiner Lehrerin wenig später Unvorstellbares anzuvertrauen: Er habe mit dem Gewehr seines Vaters einen Soldaten erschossen, da war er vier. „Sonst hätte der mich doch getötet.“

Längst überfällige Bestandsaufnahmen

Der Schüler bräuchte wie viele andere entwurzelte Kinder, die aus den Krisenregionen dieser Welt nach Essen kommen, jetzt die professionelle Hilfe eines Psychologen. Doch der ist bislang genauso Fehlanzeige wie Sozialarbeiter, Sonderpädagogen oder Dolmetscher auch an anderen Schulen und das nicht nur, weil die Eltern des jungen Afghanen womöglich in Unkenntnis der Spätfolgen eine Seelenmassage für ihren Sohn für nicht notwendig halten. Vielmehr ist der Mangel ein struktureller und damit ein verbreiteter: Die Schulen, die Grundschulen insbesondere, die Lehrer, die Kinder, die Eltern sind zunehmend überfordert mit all den Problemen, die sich in Zeiten stetig steigender Flüchtlingszahlen in den Klassenzimmern niederlassen.

Dass die Stadt inzwischen zumindest erkannt hat, personell und räumlich an die Grenzen der Kapazitäten in den Schulen zu stoßen, hilft der Basis nicht wirklich weiter, wie bei einem Besuch an der Bodelschwinghschule deutlich wird. Es braucht mehr als längst überfällige Bestandsaufnahmen. Es braucht konkrete Hilfen.

„Manchmal habe ich Angst, das System kracht zusammen“ 

Wer in einem auf Kante genähten System, bitte schön, soll schon etwas anfangen wollen mit Sätzen aus dem Schulverwaltungsamt, die beispielsweise so gehen: „Aus der Vernetzung der unterschiedlichen Akteure und Zuständigkeiten muss ein umfangreiches Bildungsangebot entstehen, das Basis sein soll für eine eigenständige, unabhängige und sichere Zukunft für die Menschen, deren Zukunft gerade in ihrer Ankommenssituation so unsicher ist.“ Kann ja niemand was dagegen haben, außer vielleicht, dass Sprech-Blasen dieser Sorte in einer Drucksituation, die unbedingtes Handeln erfordert, noch schneller platzen. „Manchmal habe ich Angst, das System kracht zusammen“, gesteht selbst eine solch gestandene Schulleiterin wie Hannelore Herz-Höhnke.

Dass das nicht passiert ist, hat das Haus an der Heinrich-Strunk-Straße „mitten in der Bronx“ ihrer Energie, ihrem Engagement, ihrem Kollegium, das sie nach Kräften unterstützt, und der unerschütterlichen Überzeugung zu verdanken, etwas besonders Wichtiges zu tun: „Wir haben bunte und nette Kinder, die sind sehr intelligent.“ Deren Potenziale gilt es schließlich zu heben. Dass sie damit viel Mehrarbeit haben und das nicht nur in Altendorf, wo die Migrantenquote an der Schule von 36 Prozent in 1999 auf aktuell 96 Prozent stieg, ohne dass die Ressourcen mithalten konnten, scheint niemanden so wirklich zu interessieren, sagt Herz-Höhnke. Jedenfalls solange es funktioniert. Irgendwie.

Ein kleiner Förderraum

Vier von hundert Kindern an der Bodelschwinghschule sind deutscher Herkunft. Die insgesamt 240 Schüler stammen aus 40 Nationen. 75 werden in der Offenen Ganztagsschule betreut, oft Stunden über die regulären Zeiten hinweg, und das von drei Erzieherinnen. „Das ist ein Witz“, sagt eine davon. Christine Böckler weiß: „Kinder brauchen Ansprechpartner.“ Und sie benötigen mehr individuelle an ihren wirklichen Bedürfnissen ausgerichtete Nischenangebote. Doch all das sei kaum zu meistern, obwohl die Schule bereits versuche, Praktikanten einzuspannen, wo und wann immer es geht. Doch es ist, wie es ist: Es geht nicht immer, und schon gar nicht gut.

Was hilft, kommt mittlerweile nicht mehr von Außen, sondern aus dem Innern der Schule, wo sie mit dem, was sie an Eingemachten hatten, zum Beispiel einen kleinen Förderraum eingerichtet haben: In der so genannten Seiteneinsteiger-Klasse für sprachlos gestrandete Neuankömmlinge lernen zur Zeit zwölf Flüchtlingskinder aus Afghanistan, Rumänien, Syrien, Nigeria und Bulgaren ihre ersten deutschen Sätze, zwei bis drei Stunden am Tag, bis sie zunächst zeitweise und dann nach zwei Jahren in den Regelunterricht entlassen werden.

Über Angebote werden die Gefühle angesprochen 

Mit einem Versprechen hat man sie gelockt, sagt die Schulleiterin, doch eingelöst wurde es allenfalls zur Hälfte: Wenn sie eine Seiteneinsteiger-Klasse einrichte, bekomme sie auch mehr Personal. Doch nachdem die erste Lehrerin mit 28 Wochenstunden abgezogen worden war, gab’s als Ersatz nur noch eine halbe Stelle mit maximal 14 Stunden. Das sei zu wenig: „Das heißt für die Kinder, zwei bis drei Stunden am Tag Deutsch lernen zu können“, rechnet Karin Borgmeister vor, die die zwölf Neuankömmlinge unterrichtet und wie ihre Kolleginnen inzwischen eine Mama-Rolle in der kleinen Schulfamilie übernommen hat.

Ein Junge fitscht über den Flur und schmeißt sich Christine Böckler an den Hals. So eng ist das Verhältnis – und die Freude an diesem Montag noch größer, dass es gleich in den Grugapark geht. Der Ausflug ist einmal mehr eine weitere von vielen freiwilligen zusätzlichen Aufgaben und Sonderprogrammen etwa für ein gewaltfreies Lernen, die sie an der Schule aus Liebe zu den Kindern stemmen, deren Eltern keine Elternbriefe verstehen und die einen großen Hilfebedarf schon in den eigentlich alltäglichsten Dingen des Lebens haben. Da braucht es kreative Gegenüber: Über Angebote werden die Gefühle angesprochen, lautet das Credo im Hause. Das allein ist schon eine wiederkehrende Herausforderung und darin sind die Spieletage und die Übernachtungen an Wochenende in der Schule noch gar nicht erwähnt.

Mehr als Sonntagssprüche

Entlastung ist da bitter nötig: Zum Beispiel durch „eine Sekretärin, die jeden Tag vor Ort ist“, sagt Herz-Höhnke, nicht nur, aber auch um die Flut von Anmeldungen zu bewältigen, die auf die Bodelschwinghschule einprasseln. „Wir platzen aus allen Nähten.“ Seitdem die Markscheideschule geschlossen wurde in dem Zuzug-Stadtteil Altendorf, geht’s der Heinrich-Strunk-Schule und der Hüttmannschule nicht besser. Auch diese Standorte müssen wohl Schüler auf freie Plätze in benachbarten Stadtteilen verweisen. Ebenso wäre ein Hausmeister vonnöten, einer, der ständig nach dem Rechten schaut und Hand anlegt, damit die Pädagogen nicht auch noch Drecksarbeit im strengsten Sinne erledigen müssen: Etwa wenn Kinder eine Toilette verlassen, die sie vorher nicht kannten.

Christine Böckler macht so viel empfundene Ignoranz einer wichtigen Arbeit gegenüber „traurig und wütend“. Die Erzieherin erhofft sich von der Politik „mehr als Sonntagssprüche, die montags ab 6 Uhr nicht mehr gelten“. Nicht allein für sich, sondern vor allem für die Kinder, die Tag für Tag auf ihre Hilfe zählen in dem liebevoll eingerichteten Schultreff, der seinem Namen alle Ehre machen möchte. Sie nennen ihn die Glücksgruppe.