Duisburg-Homberg. Der kleine Junge aus Homberg wurde 1943 von den Nazis ermordet, weil er Epileptiker war. Dirk Lachmann hat seine Geschichte recherchiert.
Neulich fühlte sich Dirk Lachmann wieder bestätigt. „Kanzleramt blockiert beim Kampf gegen Rechts“, stand über einem Artikel: Zwei Gesetze im Einsatz gegen Rechtsextremismus und Rassismus stockten in der Koalition, kritisiert die Justizministerin. Lachmann hat die Seite da. „Wenn ich sowas lese, frage ich mich: In welcher Zeit leben wir eigentlich?“ Für den Heimatforscher ein Unding, das zum „spürbaren Rechtsruck“ zu passen scheint, den er in der Gesellschaft ausmacht. Umso wichtiger ist es ihm, dass Nachgeborene über die Verbrechen des Nationalsozialismus Bescheid wissen.
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In seinem Stadtbezirk ist der Vize-Vorsitzende des Freundeskreises Historisches Homberg diesem Ziel wieder einen Schritt näher gekommen. Für seine Arbeit „Homberg unterm Hakenkreuz. 1933 - 1945“ legt er ein neues Kapitel vor. Es geht um die NS-„Euthanasie“, Nazi-Jargon für die Vernichtung unerwünschten Lebens. Und es geht um Karl Heinz Kaufmann aus Homberg (Name geändert), der nur sechs Jahre alt wurde. Ein Kind, das an Epilepsie litt und deshalb 1943 in Wien ermordet wurde. Ein Schicksal, das exemplarisch für viele steht.
NS-Zeit in Homberg wird ausgespart
Dirk Lachmann hat sich vorgenommen, mit seinen Forschungen Licht in ein bewusst dunkel gehaltenes Kapitel Lokalhistorie zu bringen. Anlass waren Werke wie „Die Geschichte der Stadt Homberg“ von Theodor Mohr von 1968, das mit der Weimarer Republik endet und die Hitler-Jahre konsequent verschweigt. Für Lachmann entstand Handlungsdruck. „Nicht das Wegsehen, sondern das Hinsehen macht die Seele frei“, diesen Satz zitiert der ehemalige SPD-Ratsherr auf seiner Homepage. Seit 2014 ist er dabei, die zeitliche Lücke zu füllen. Lachmann erzählt, was unter den Nazis in Homberg geschah. Und er erzählt, wer beteiligt war. Zwei Themen hat er bisher bearbeitet, die Geschichte der Juden und die Zwangsarbeit. Das Thema Widerstand wird folgen.
Doch erst die „Euthanasie“, dieser irreführende Begriff, den die NS-Diktatur im Zusammenhang mit ihrer Rassenideologie benutzte: Kranke oder behinderte Menschen standen der Zucht von „Herrenmenschen“ entgegen. Sie wurden sterilisiert oder gleich ermordet.
Bereits im Juli 1933, informiert Lachmann eingangs, erließ Hitler das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Gemeint waren „angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärer Irrsinn, erbliche Fallsucht, erbliche Blindheit und Taubheit, schwere erbliche Mißbildung oder Alkoholsucht“.
Lachmann hat sich erst den jüngsten Opfer zugewandt. Er fand heraus: Eine erste Kinderfachabteilung entstand 1940 in der Landesanstalt Brandenburg-Görden. Insgesamt wurden im Reichsgebiet 37 eingerichtet, drei in Österreich. Allein in der Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ in Wien, in der auch Karl Heinz aus Homberg ermordet wurde, kamen rund 800 kranke und behinderte Kinder und Jugendliche um. Heute wird die Einrichtung als „Kindertotenhaus von Wien“ bezeichnet.
Lehrer mussten Meldung machen
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Klinikleiter war Doktor Ernst Illing, Heinrich Gross und Marianne Türk hießen die für den Reichsausschuss Gutachten erstellenden Ärzte. Ihren Einschätzungen zufolge wurden die Patienten kategorisiert: „keine weiteren Maßnahmen“ (Nahrungsentzug), „Beobachtung“ („Tötung vorbehalten“) und „Behandlung“ („sofortige Tötung“). Lehrer, Kindergärtner, Hebammen, Ärzte und Psychologen vor Ort waren gesetzlich verpflichtet, den NS-Behörden Fälle zu melden. „Viele Eltern vertrauten sich der angeblichen Fürsorge des Staates jedoch nicht an“, erfuhr Lachmann. Einige ahnten bereits, was tatsächlich mit den Kindern geschah.
Die Recherche war schwierig, berichtet der Forscher, dabei hatte an der Ehrenstraße 18 in Hochheide nachweislich eine „Hilfsschule“ existiert. Einen Durchbruch brachten die Kirchenbücher der Evangelischen Kirche in Hochheide. Dort taucht ein Kind mit Namen Karl Heinz Kaufmann auf. Er wurde am 28. Januar 1937 geboren und starb am 17. Juni 1943. Todesursache: „Kind war geisteskrank.“ Weitere Recherchen in alten Adressbüchern führten erst nach Essenberg - und dann zu noch lebenden Verwandten. Hier erfuhr Lachmann mehr.
Karl Heinz entwickelte sich von Anfang an langsam. Im April 1943 brachten ihn die Eltern auf ärztlichen Rat zur Beobachtung in die Landesklinik für Jugendpsychologie in Bonn. Dort beginnt sein Leidensweg. Das Kind wurde ins Behindertenwohnheim St. Josefshaus bei Mönchengladbach überwiesen, dann, im Mai, nach Wien in die Anstalt Am Steinhof, zu der die Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund gehörte. Briefe der besorgten Mutter wurden ausweichend beantwortet. Die lange Reise sei nicht nötig, der Junge sei körperlich gesund. Zudem könne man Verwandte nicht unterbringen, hieß es. Zwei Monate später war das Kind tot.
Barbiturate wurden ins Essen gemischt
Die Kinder erhielten eine Überdosis Barbiturate, gespritzt oder ins Essen beigemischt, schildert Lachmann. Karl Heinz kam wohl bei einem epileptischen Anfall ums Leben, der absichtlich ausgelöst wurde. 1943 wurde er in einem Massengrab beigesetzt und 2002 noch einmal auf dem Wiener Zentralfriedhof. Hier gedenkt ein Grabmal der 600 Kinder, die in der Nervenklinik starben.
Erscheinen wird Karl Heinz’ Geschichte auf Lachmanns Homepage. Der 81-Jährige will die jungen Leute dort abholen, wo er sie vermutet: vor dem PC. Auch Vorträge in Schulen hält er. Reaktionen sind ihm willkommen, sagt er - gern via E-Mail „und von unter 40-Jährigen“.
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Dirk Lachmann veröffentlicht seine Aufsätze zu seiner Forschungsarbeit „Homberg unterm Hakenkreuz“ im Internet. Die Adresse lautet: www.homberg-unterm-Hakenkreuz.de
Derzeit sitzt er an einem zweiten Abschnitt über das Thema Euthanasie in der NS-Zeit. Er behandelt Fälle der Tötung von Erwachsenen. Bisher konnte Lachmann über 50 Fälle von behinderten Männern und Frauen aus Homberg namentlich erfassen. Ein Großteil von ihnen wurde in einer der sechs Tötungsanstalten Nazi-Deutschlands ermordet.
Der E-Mail-Kontakt zu Dirk Lachmann: dirklachmann@web.de