Duisburg. Er ist ein Duisburger Kinderarzt, der osteuropäische Sprachen spricht. Oleg Witkowski hilft jetzt vielen kleinen Ukrainern – beruflich und privat.
Genau einen Tag hat es gedauert, bis die Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine bei Oleg Witkowski angekommen sind. „Am 25. Februar stand hier die erste Familie“, berichtet der Kinderarzt. Seither ist seine Praxis in Neumühl viel mehr als eine Adresse für die kranken Kinder der Geflüchteten. Witkowski stammt aus Weißrussland, er ist jetzt auch Ratgeber, Motivator und Gastgeber für die Eltern. „Ich mache hier Sozialmedizin“, sagt der 71-Jährige.
[Nichts verpassen, was in Duisburg passiert: Hier für den täglichen Duisburg-Newsletter anmelden.]
Auch interessant
Dass in der dritten Etage an der Lehrerstraße 17 in Neumühl erst gegen 23 Uhr das Licht erlischt, war in den vergangenen Monaten eher die Regel als die Ausnahme. „Ich kann niemanden abweisen, ich bin doch der einzige Kinderarzt, der die osteuropäischen Sprachen spricht“, sagt der Pädiater. Das hat sich schnell herumgesprochen unter den gut 5000 Ukrainern, die nun in Duisburg leben: „Sie kommen mit gesunden Kindern und auch mit sehr kranken Kindern.“ Und mit ganz vielen Fragen.
„Die Kinder sind traumatisiert. Je älter sie sind, desto mehr.“
Auch interessant
Was hat der Krieg, die Flucht mit den Kindern gemacht? „Sie sind traumatisiert, das merkt man deutlich“, sagt Witkowski, „je älter sie sind, desto mehr“. Besonders jene aus den heftig umkämpften Städten und Dörfern der Ukraine. Das Leben im Keller, Bomben und Artilleriebeschuss hinterlassen Spuren in der Seele, deren Behandlung den Kinderarzt überfordern. „Das braucht Psychotherapie.“ Dass Kinder schneller vergessen als die Erwachsenen, leichter in das neue Leben finden, ist seine Hoffnung: „Sie werden die Gewinner sein, wenn sie hier zur Schule gehen, eine Ausbildung machen, studieren können. Und auch für Deutschland werden sie ein Gewinn sein.“
„Bisher hatte ich zwei Enkelkinder. Jetzt sind es sechs“
Auch interessant
Viele werden wohl nicht so schnell in die zerbombte Heimat zurückkehren können, wie sie sich das erhoffen, ahnt der Arzt. „Ich rate, sich zu integrieren, so schnell wie möglich.“ Als Ratgeber für Integration hat Witkowski Erfahrung, seit er vor 25 Jahren die Praxis in Neumühl übernahm. „Das ist eine Stelle für mehrere Generationen“, haben sie ihm damals gesagt. Es kamen Ukrainer und Russen, Spätaussiedler aus Kasachstan, osteuropäische Juden. Als nun der „Ukraine-Tsunami“, wie er es nennt, über seine Praxis hereinbrach, wurde der Doktor selbst zum Gastgeber. Zwei Familien, zusammen neun Personen, hat er aufgenommen mit seiner Frau Natalia, die aus Russland stammt. „Bisher hatte ich zwei Enkelkinder, jetzt sind es sechs“, sagt Witkowski.
„Mein Vorgesetzter entschied: Du wirst Kinderarzt. Das bin ich geblieben.“
Auch interessant
Er müsste all das nicht tun. Seine Praxis ist ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ), gehört zu den Helios Kliniken, der Pädiater ist dort Angestellter, wird durch die Überstunden nicht reich. Doch in vielen Geschichten, die er in diesen Monaten hört, erkennt er seine eigene. Und damit will er auch Vorbild sein, wenn er Geflüchteten Mut macht: „Ich habe es auch geschafft. Und Ihr habt es leichter, weil Ihr sofort arbeiten dürft.“
Als Sohn stramm kommunistischer Eltern wuchs Oleg Witkowski im weißrussischen Westen auf, studierte dort Medizin wie seine Mutter, deren Eltern aus Ostpreußen stammten. Seine Kontakte zu oppositionellen Kreisen der damaligen Sowjetunion fielen beim Militärdienst auf. „Sie haben mich degradiert“, berichtet er. Ein Schlüsselerlebnis, wie auch die Entscheidung für den Beruf, die er nicht selbst traf: „Mein Vorgesetzter entschied: Du wirst Kinderarzt. Das bin ich geblieben.“ Fest stand da aber für ihn: „Ich will auf jeden Fall raus aus Russland.“
„Dank meiner Großmutter wurde ich vom Flüchtling zum Spätaussiedler“
Die Heirat mit seiner ersten Frau, einer Polin, bot diese Chance: Das Paar zog ins Nachbarland, in einer Klinik in Lodz arbeitete Witkowski fünf Jahre, zwei Söhne kamen zur Welt. Die Gewerkschaft Solidarnosc hatte die Revolution in Polen und damit den Zerfall des Ostblocks in Gang gebracht, als der junge Arzt 1985 nach der Behandlung eines Kindes deutscher Besucher entschied, sich auf den Weg gen Westen zu machen. „Als Dank haben sie mir einen Betrag geschenkt, der meinem Jahresgehalt entsprach, und mich nach Essen eingeladen.“
Auch interessant
Die ahnungslose Familie hatte er zunächst zurückgelassen. „Es wäre zu riskant gewesen, meine Frau zu informieren.“ Er beantragte politisches Asyl. Als er schon die Hoffnung aufgeben wollte und die Weiterreise nach Kanada plante, half die ostpreußische Oma. „Ich konnte beim Ausländeramt die Herkunft belegen. Damit wurde ich vom Flüchtling zum Spätaussiedler, und alle Türen gingen auf.“ Nach Anerkennung seines Studiums stellte ihn die Uniklinik Essen ein, als Facharzt wechselte er drei Jahre später an die Kinderklinik in Geldern, wo er sieben Jahre blieb.
„Ihr lernt eine neue Kultur kennen, könnt Eure eigene einbringen“
„Fremd zu sein, das muss man lernen“, sagt Oleg Witkowski und rät, nach der Flucht das Positive zu sehen: „Ihr lernt eine neue Kultur kennen, könnt Eure eigene einbringen.“ Zeit, Kompetenz und Bescheidenheit sind für ihn die Grundlagen für einen Neustart. Und Resilienz, die Fähigkeit, sich neuen Umständen anzupassen, habe ihn in den vergangenen 45 Jahren weitergebracht. „Ich habe in Weißrussland meine körperliche, in Polen meine seelische und in Deutschland meine geistige Geburt erlebt.“
Über die Entscheidung seines militärischen Vorgesetzten wird Oleg Witkowski sich übrigens nie ärgern. „Es ist ein großes Glück, dass der Job auch mein Hobby ist.“ Jene, die nun wie er am Ende eines langen Weges in Duisburg leben, dürfen sich nun glücklich schätzen, auf diesen Kinderarzt zu treffen.